Gotik und Graffiti, Geschichte und Gegenwart: Im Heilig-Kreuz-Münster schlägt ein Kreuzweg im Street-Art-Stil Brücken vom Leidensweg Jesu Christi zum Hier und Jetzt. Er sei „sehr geflasht“ gewesen, als er die Werke zum ersten Mal sah, berichtet Münsterpfarrer Timo Weber – im besten Sinne.
Elektrisiert, ergriffen, könnte man statt „geflasht“ auch sagen. Derart gepackt hat den Seelsorger, wie er im Gespräch mit der NRWZ erzählt, die Energie und Aktualität der Darstellungen, die vor wenigen Tagen an der Brüstung der Orgel-Empore angebracht wurden – rechtzeitig zum Beginn der Karwoche, in der die Erinnerung an Leiden und Auferstehung Jesu Christi in dramatischer Weise im Mittelpunkt stehen.
„Jede Zeit hat ihre Bilder, ihre Sprache“, sagt Weber. Dass gerade zur heiligen Woche im Münster eine Auseinandersetzung mit dieser zentralen christlichen Thematik mit heutigen Ausdrucksmitteln zu sehen ist, dafür sei er dankbar: „Ich finde das eine tolle Aktion“, unterstreicht er – auch mit Blick auf den Initiator des Projekts „Kreuzstreet“, Michael Grimm.
Beeindruckt hat den Münsterpfarrer besonders, dass die jungen Künstler – eine Frau und sechs Männer, darunter aus Rottweil Konstantin Viktor Müller und Robert Hak – sich intensiv mit den biblischen Schilderungen auseinandergesetzt haben. Als Beispiel verweist Weber gleich auf die erste Station: Jesus wird zum Tode verurteilt. Kniend mitten in einer Häuserflucht hat der Künstler hat Jesus dargestellt – eine Großstadtszene, die sehr aktuell wirkt.

Die aber Überraschungspotenzial bietet, wenn man genauer hinschaut: „In den Fenstern findet man dann Bibelstellen, die sich auf Jesus beziehen“, erläutert Pfarrer Weber mit spürbarer Begeisterung. Die zweitausend Jahre alte Erzählung verliert so den historischen Abstand und wird direkt mit der Jetztzeit verknüpft.
Dass diese Nähe auch aufwühlend sein kann, ist dem Seelsorger bewusst. Die Aktion gefalle vermutlich nicht jedem und sei „auch ein Stein des Anstoßes“, sagt er. „Die Werke sind eine Aufforderung, sich hinzusetzen und die Botschaften auf sich wirken zu lassen,“ führt Weber aus. Und verweist etwa auf die zwölfte Station: Jesus stirbt am Kreuz. Diese hat Robert Hak mit einem schlichten Schriftzug umgesetzt: „Ich war hier. J.“ ist da zu lesen. Nicht nur die ausfließenden Buchstaben, die regelrecht zu weinen scheinen, haben Pfarrer Weber an der Umsetzung berührt. Denn Hak hat dem eben Ermordeten da eine Stimme gegeben – eine Stimme, die im Tod schon vorausweist auf Auferstehung.

Berührend auch die Deutung der elften Station: Jesus wird ans Kreuz genagelt. Gestaltet hat sie die Ukrainerin Somari – eine junge Frau, die ohne Religion aufgewachsen ist, sich bei der Beschäftigung mit der biblischen Szene aber stark an Erfahrungen durch die russischen Angriffe auf ihre Heimat erinnert fühlte. Die fröhlichen Farben, in der sie sonst in Comic-Anmutung malt, sind präsent. Sie werden aber von dunklen Schatten durchzogen. Unten sieht man die Hand und das Kreuz, in der linken Bildhälfte ein Auge, aus welchem ein Strahl die Hand durchbohrt. Aber wer da Jesus ans Kreuz nagelt, bleibt offen. Ebenso, wer ihn verurteilt hat. Sind es einzelne, oder gerade auch die, die nichts unternehmen und wegschauen – auch diese Frage könnte man aus dem aufgerissenen Auge herauslesen.

Wenige Zeichen eröffnen so bereits weite Horizonte. Insgesamt reicht im Projekt „Kreuzstreet“ das Spektrum von fast realistischen Darstellungen Jesu, etwa in der Schweißtuch-Szene, über textlich-typografische Deutungen bis zu Bildmitteln, die an Piktogramme erinnern.

Alles in allem sind die modernen Deutungen bemerkenswert spannungsvoll. Einerseits schaffen sie Distanz von den Darstellungen des Leidens Jesu, die man vielfach gesehen hat. Andererseits verknüpfen sie das biblische Geschehen auf direktestem Weg mit der Gegenwart. Und wiesen so berührend auf die universelle Dimension von Leiden und Tod, aber auch Hoffnung und Erlösung hin – als zeitgenössisch-zugängliche und zugleich tief berührende Hingucker für Herz und Hirn.
Info: „Kreuzstreet“ wird im Rottweiler Heilig-Kreuz-Münster bis Fronleichnam gezeigt.