Jedes siebte Kind in Deutschland ist zu dick oder krankhaft übergewichtig. Zu wenig Bewegung, zu viel Smartphone und Co. und zu fettreiche Ernährung: Viele werden die Pfunde auch im Alter nicht mehr los.
Laut einer Auswertung der AOK Schwarzwald-Baar-Heuberg waren 2018 448 Kinder unter zwölf Jahren in den Kreisen Rottweil, Tuttlingen und Schwarzwald-Baar-Kreis wegen krankhaften Übergewichts (Adipositas) in ärztlicher Behandlung, rund 90 Kinder mehr als noch vor fünf Jahren. Heidrun Zeller-Thorn, Ernährungsberaterin bei der AOK Schwarzwald-Baar-Heuberg rät Eltern, sich frühzeitig Hilfe zu holen.
Allein im Kreis Rottweil waren 2018 151 AOK-versicherte Kinder bis 12 Jahre wegen Adipositas – krankhaftem Übergewicht – in medizinischer Behandlung. Vier Jahre zuvor waren es 142 Jungen und Mädchen, die in etwa gleichermaßen betroffen sind.
Die Vergleichswerte aus der Region und aus dem Ländle bestätigen den Trend. In Baden-Württemberg wurden 2018 10.870 Kinder gezählt (2014: 8743). „In der AOK-Statistik können wir nur Kinder erfassen, die tatsächlich in Behandlung waren. Wir haben es sicher mit einer hohen Dunkelziffer zu tun“, schätzt Zeller-Thorn. Dabei ist die Tendenz im Kreis Rottweil leicht rückläufig: 2014 waren 1,8 Prozent der Kinder betroffen und im Jahr 2018 1,6 Prozent.
Die Krankenkasse KKH bestätigt das. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre, die unter extremem Übergewicht leiden, hat laut KKH-Bericht von 2009 auf 2019 bundesweit um rund ein Viertel zugenommen (24 Prozent). Damit erhielten mehr als 11.000 KKH-Versicherte bis 18 Jahre die Diagnose Adipositas, wie eine aktuelle Datenerhebung der Krankenkasse zeigt.
Im Geschlechtervergleich ist die Entwicklung vor allem bei den Jungen alarmierend. So lag der Anstieg zum Beispiel bei den 15- bis 18-Jährigen dreieinhalb Mal so hoch wie bei den gleichaltrigen Mädchen (35 zu 10 Prozent). Bei den 6- bis 10-jährigen Jungen ist die Steigerungsrate mit 32 Prozent ähnlich hoch.
Kinder und Jugendliche sind heute immer weniger aktiv, stellt auch die AOK fest. Ein zusätzliches Problem: Jugendliche, die schon zu Übergewicht neigen, sitzen gerne stundenlang allein vor dem Fernseher oder Computer und naschen Fett- und Zuckerhaltiges. „Meine erste Empfehlung bei Gewichtsproblemen bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen ist immer: mehr Bewegung in den Alltag einbauen“, so die Ernährungsexpertin Zeller-Thorn. Eltern nehmen bei der Vorbeugung eine besonders wichtige Rolle ein. „Entdecken Sie als Eltern zusammen mit ihren Kindern den Spaß an Sport und Bewegung wieder. Wählen Sie Freizeitaktivitäten mit körperlicher Bewegung, die allen Freude bereitet. Und vor allem: Gehen Sie als Eltern voran.“ Dasselbe gelte auch für das Ess- und Trinkverhalten.
Die Ernährungsexpertinnen der AOK Schwarzwald-Baar-Heuberg bieten Betroffenen ihre Unterstützung an. Sie beraten und unterstützen Eltern und ihre Kinder bei einer geeigneten und individuellen Ernährungsumstellung.
Angestrebt wird ein konsequenter und anhaltender Abbau von Übergewicht. Denn das Problem ist nicht in erster Linie das Abnehmen, sondern die dauerhafte Änderung des Essverhaltens und die Stabilisierung des Gewichts. Gelingt es im Kindesalter nicht, das Gewicht auf ein normales Niveau zu bringen, wird es im Erwachsenenalter umso schwerer.
Schokolade, Gummibärchen und Chips, Pommes und zuckerreiche Erfrischungsgetränke, dazu immer größere Portionen: „Falsche, das heißt fett- und kalorienreiche Ernährung ist eine der Hauptursachen für Übergewicht bei Kindern“, erklärt ebenfalls KKH-Ernährungswissenschaftlerin Dr. Anja Luci. „Besonders tückisch ist es, wenn ungesundes Essen einhergeht mit Essattacken aus Frust oder Ärger in der Schule.“ Während der Corona-Krise hat sich das Problem der Fehlernährung in etlichen Familien noch verschärft. Zwischen Homeschooling, Homeoffice und Kinderbetreuung blieb Eltern wenig Zeit für gesundes Kochen, sodass oftmals Tiefkühlgerichte oder die Pizza vom Bringdienst auf dem Teller landete, was für zusätzliche Pfunde auf den Hüften sorgte.
Ursacheherd Nummer 2 dafür, dass immer mehr Kinder deutlich zu viele Kilos auf die Waage bringen: Bewegungsmangel. Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bewegen sich mehr als 80 Prozent der schulpflichtigen Kinder zu wenig. 60 Minuten täglich – moderat bis anstrengend – sollten es sein, neben Sport auch Alltagsaktivitäten. Doch das schafft nur eine Minderheit. „Die heutige Lebenswelt von Kindern fördert Inaktivität“, so Anja Luci. „Sie werden von ihren Eltern häufig mit dem Auto zur Schule gefahren, sitzen viel im Unterricht sowie auch daheim bei den Schulaufgaben.“ Der Corona-Lockdown hat das noch forciert. Schulsport und Bewegung in den Pausen entfielen ebenso wie Sport in Vereinen. Auch die stundenlange Nutzung von Smartphone und PC trägt dazu bei, dass Kinder lieber chatten, spielen und posten statt Rad zu fahren oder mit Gleichaltrigen draußen zu spielen.
„Wichtig ist uns als Krankenkasse, bei Eltern und Kindern das Bewusstsein für Adipositas und seine möglichen Folgen zu schärfen“, sagt die Ernährungsexpertin. Neben dem Körper nimmt meist auch die Seele stark übergewichtiger Kinder Schaden. Wegen seiner Fettleibigkeit gehänselt und stigmatisiert zu werden, nagt schwer am Selbstwertgefühl von Kindern und kann Ängste und Depressionen auslösen. In der Folge greifen sie erneut zu Dickmachern. Dieser scheinbar ausweglosen Situation zu entfliehen, gelingt betroffenen Kindern und deren Eltern oft nur mit Hilfe von außen. Bei der Wahl der Therapie kommt es auf drei Säulen an, um Fettleibigkeit in den Griff zu bekommen: eine gezielte Ernährungsumstellung auf fettreduzierte, vitaminreiche Vollwertkost, weiter regelmäßigen Kraft- und Ausdauersport und ein Verhaltenstraining. „Den Lebensstil grundlegend zu verändern, ist ein Kraftakt, der Kindern wie Eltern viel Geduld und Durchhaltevermögen abverlangt. Doch nur so kann der Teufelskreis durchbrochen, die Gesundheit stabilisiert und die Lebensqualität dauerhaft erhöht werden“, ist Anja Luci überzeugt.
Hätten Sie’s gewusst?
Je länger Babys gestillt werden, desto mehr sind sie laut WHO vor Fettleibigkeit geschützt. Idealerweise sollten sie in den ersten sechs Lebensmonaten ausschließlich gestillt werden.