Aus Anlass des Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus veranstaltet die Stadt seit etlichen Jahren schon zusammen mit der Regionalgruppe Baden-Württemberg von „Gegen Vergessen für Demokratie“ am 27. Januar einen historischen Vortrag. Das Thema in diesem Jahr „ Der Umgang mit ‚lebensunwertem Leben‘ während der Nazi-Diktatur und in Heiligenbronn“.
In diesem Jahr fand der Vortrag coronabedingt im Netz statt. Stiftungsvorstand Dr. Thorsten Hinz und Archivar Ewald Graf von der Stiftung St. Franziskus hielten zwei Vorträge, zum einen über das NS-Zwangssterilisierungsprogramm und die „Euthanasie-Morde“. Zum anderen, wie diese Terror-Programme sich im Leben und der Arbeit im damaligen Kloster und seinen Anstalten konkret auswirkten.
Starkes Interesse
Stiftungsvorstand Stefan Guhl begrüßte an die 120 Teilnehmer, unter ihnen die beiden Schramberger Ehrenbürger Dr. Hans Jochem Steim und Dr. Herbert O. Zinell. Aus New York hatte sich Franz Baumann eingeloggt. Auch etliche Gemeinderätinnen und Räte verfolgten die Vorträge. In einem kurzen Grußwort bedankte sich Oberbürgermeisterin Dorothee Eisenlohrbei der Stiftung für die Veranstaltung. Die Forschungsarbeit vor Ort schaffe lokale Bezüge und mache so die Vergangenheit greifbarer.
T-4-Aktion
Thorsten Hinz konzentrierte sich auf die Geschichte der Euthanasie im ehemaligen Württemberg und Baden. Mit der „T4-Aktion“ also der gezielten Vernichtung lebensunwerten Lebens hätten die Nazis das „Ende jeglicher Humanität“ eingeläutet. Es war der Auftakt zum Holocaust, einem „ grauenhaften staatlichen Verbrechen“. 70.000 Menschen brachten die Nazis bei der T4-Aktion um. 400.000 Mädchen und Jungen, Männer und Frauen ließen sie zwangssterilisieren.
Die Massenmorde begannen in Grafeneck auf der schwäbischen Alb, einer von sechs Tötungsanstalten. Im Januar 1940 mussten dort die ersten Menschen in die Gaskammern. Mehr als 10.000 Kranke, Behinderte oder sonst als „lebensunwert“ gebrandmarkte Menschen verloren in Grafeneck ihr Leben.
Keine NS-Erfindung
Hinz wies drauf hin, dass die Nazis keineswegs die Erfinder dieser Ideologie waren. Nach Darwin kam schon im 19. Jahrhundert die Ideologie der Rassenhygiene und Erbgesundheit auf. Nach dem ersten Weltkrieg radikalisierte sich diese Ideologie: Behinderte menschen seien „unnütze Esser“, die nur dem Volk auf der Tasche lägen. Zeitungsartikel erschienen zum Thema, Ärzte hielten Vorträge.
Vor elf Jahren hatte Carsten Kohlmann bei einem Vortrag zur Euthanasie über den damaligen Chefarzt am Schramberger Krankenhaus, Dr. Christoph Blum, berichtet, der am Schramberger Krankenhaus Menschen zwangssterilisiert hat. Blum hatte in einem Vortrag gefordert: „Ein Volk, das nicht vom Schauplatz der Geschichte abtreten will, muss die Auslese des erblichen Nachwuchses selbst vornehmen.“
Adolf Hitler war schon 1936 vom Reichsärzteführer aufgefordert worden, den „Gnadentod“ zu gewähren. Doch Hitler wollte erst den Krieg abwarten, weil er den Widerstand der Kirchen fürchtete, so Hinz. „Dieser Widerstand kam spät und sehr verhalten“. Im Gegenteil: Viele Heimleiter hätten sogar mitgeholfen.
Start mit Kriegsbeginn
Am 1. September 1939, dem Tag des Überfalls auf Polen, hat Hitler dann ein „Ermächtigungsschreiben“ herausgegeben, das die Tötungsmaschinerie in Gang setzte. In Berlin in der Tiergartenstraße 4 traf sich eine „Reichsarbeitsgemeinschaft“, die den systematischen Mord an Menschen mit Behinderungen organisierte. Daher der Name T 4 Aktion.
Hinz berichtete, dass in vielen Dörfern im Umland von Grafeneck die Menschen Bescheid wussten, wenn die roten, später grauen Busse anrollten. In den Heimen, in denen die Opfer abgeholt wurden, habe es „dramatische Szenen und Fluchtversuche“ gegeben. In den Tötungsanstalten verfassten Mitarbeiter „Trostbriefe“ an die Verwandten mit angeblichen Todesursachen.
Schwacher Widerstand
Im Sommer 1940, so Hinz, hätten sich der Freiburger Erzbischof und der Bischof von Rottenburg in Berlin gegen die T-4-Aktion gewandt. Doch erst die berühmten Predigte des Münsteraner Bischofs Clemens Graf von Galen im August 1941 scheinen die T-4-Aktion gestoppt zu haben. Jedenfalls beendete Hitler das systematische Morden. Allerdings sei da das Ziel, 20 Prozent aller etwa 350.000 Heimbewohner zu töten, erreicht gewesen.
Hinz kritisierte scharf den Umgang der Nachkriegsjustiz mit den Mördern in Weißkitteln nach dem Krieg. Viele wurden freigesprochen, mussten ihre strafen nicht verbüßen oder erhielten kurze Strafen zur Bewährung. „Das wirkt heute sehr verstörend“, so Hinz. Zumal die Opfer der Zwangssterilisation erst sehr spät als Opfer des NS-Regimes anerkannt wurden. Ein „trauriger Blick in die Geschichte.“
34 Zwangssterilisations-Opfer aus Heiligenbronn
Archivar Ewald Graf hat die Rechercheergebnisse, die er zusammen mit Iris Riedlsperger im Archiv des Klosters Heiligenbronn erarbeitet hat, vorgestellt. Das Kloster unterhielt damals eine Blinden-, eine Gehörlosen- und eine Mädchenschule. 2002 hatte der Historiker Hans-Joachim Losch herausgefunden dass von den Heimbewohnern 20 zwangssterilisiert wurden.
Graf und Riedlsperger fanden 34 in den Bewohnerakten: 20 Gehörlose, zehn Blinde und vier Mädchen. Damals lebten etwa 450 behinderte Menschen, Mädchen und junge Frauen in der Anstalt. Für die Nazis waren Blindheit und Gehörlosigkeit Lasten für die Volksgemeinschaft, die wenn erblich, auch künftige Generationen belasten würden. Durch Zwangssterilisation galt es dies zu verhindern.
„Erbgesundheitsgericht“
Mit einer eigenen Gerichtsbarkeit, den „Erbgesundheitsgerichten“, ließ das Regime prüfen, ob die Opfer erbkrank seien oder nicht. Für Heiligenbronn war das Erbgesundheitsgericht in Oberndorf zuständig. Sterilisiert wurden die Opfer in Rottweil, wenige auch in Schramberg. Die meisten Sterilisationen fanden 1937 und 1938 statt. Die Richter waren oft gnadenlos, wenn auch nur die geringste „Gefahr der Fortpflanzung“ bestand, ordneten sie die Sterilisation an. Die geistlichen Klostervorstände, die Superiore hätten sich für ihre Bewohner eingesetzt, so Graf. Für sie sei die Zwangssterilisation „nicht vereinbar mit dem Glauben“ gewesen.
Weil Heiligenbronn keine Pflegeanstalt war, seien keine Transporte nach Grafeneck gegangen. Allerdings kann Graf zwei Fälle belegen, in denen ehemalige Bewohner aus Heiligenbronn ermordet wurden: Anna Waizenegger und Emil Wolf.
Graf hatte sehr viele Dokumente und Gerichtsakten vorgelegt und dabei bewusst die Namen der Beteiligten, Opfer wie Täter, nicht geschwärzt. Es gehe ihm dabei um die Anerkennung des geschehenen Unrechts.
Am Ende der gut zwei Stunden herrschte Schweigen im Netz. Stiftungsvorstand Stefan Guhl bat um Fragen, doch die Zuhörer waren wohl zu betroffen, um Fragen zu stellen.
Info: Die Stiftung hat den Abend aufgezeichnet, man kann ihn dort gegebenenfalls anfordern.