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    Steige-Unfall: Was hat der Angeklagte mitbekommen?

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    Am zweiten Prozesstag um den schweren Unfall an der Steige in Schramberg am 17. März 2018 haben am Vormittag zunächst der Angeklagte und dann das Unfallopfer  ihre Sicht des Unfalls und der Folgen geschildert (wir haben berichtet). Im Anschluss hörte die Schwurgerichtskammer unter Vorsitz von Richter Karlheinz Münzer eine Reihe von Zeugen, Familienangehörige und Bekannte des Opfers, die beiden Frauen, die der Angeklagte zum Flughafen fuhr, sowie Polizeibeamte, die nach dem Unfall ermittelt hatten.

    Die Familie des Opfers: „Ein Alptraum“

    Richter Münzer wollte vom Vater des Opfers und Nebenklägers erfahren, was nach dem Unfall geschehen ist. Der 53-jährige Techniker zögert lange: „Wie kann man das beschreiben?“  Sein Sohn habe nach seiner Haftentlassung   auch seinen Abschied von Schramberg feiern wollen. „Dann haben wir gehört, dass er überfahren wurde.“ Danach habe sich das Leben der Familie massiv verändert, er selbst sei mehrere Monate krankgeschrieben worden. „Die Bilder gehen einem nicht aus dem Kopf.“

    Auf Münzers Frage, ob sein Sohn häufiger volltrunken war, meint der Vater: „Das war nie der Fall.“ Auch Drogen hätten keine Rolle gespielt. Nach der Krankenhausentlassung hätten seine Frau und er den Sohn rundum betreuen müssen. Er habe immer wieder versucht, sich selbst zu motivieren. Hilfe komme von der Pflegeversicherung und von einem Pflegedienst. Nach dem Unfall, so Münzer, lag der junge Mann zwei Wochen im Koma, drei Monate auf der Intensivstation und einen Monat im Regelkrankenhaus. Es folgten 13 Monate in einer Rehaeinrichtung. Bis heute brauche er Unterstützung beim Anziehen, waschen duschen, so der Zeuge.

    Die nächste Zeugin, die Mutter des Opfers, bestätigt die Angaben ihres Mannes. Ja, er habe früher schon mal ein paar Bierchen getrunken, aber hingefallen sei er nie. Am besagten Tag: „ein bisschen Abschied feiern“. In Hamm habe er neu starten wollen, denn er habe „wunderschöne Bilder gemalt“. Die zweieinhalb Jahre seit dem Unfall seien „ein Alptraum“. Vorher habe sie sich um die Kinder und Enkel gekümmert, nun nur noch um ihren Sohn.

    Zechtour zum Abschied

    Als nächster Zeuge kommt der Freund in den Zeugenstand, mit dem der Abend begann. Der 31-Jährige berichtet wie sie zunächst im Eckenhof in einer Bar mit Kollegen eine Flasche Smirnoff-Wodka geleert und bei einem Freund eine weitere, angebrochen Flasche Wodka getrunken hätten. Dann seien sie mit dem Taxi in die Talstadt gefahren und hätten bei einem befreundeten Pärchen eine volle Flasche leer getrunken.

    Alle hätten etwa gleich viel getrunken. „A. ist dann aufgestanden und habe gesagt, er wolle jetzt heimlaufen.“ Er sei ganz normal gewesen, habe nicht geschwankt oder gelallt, so der Zeuge. Ob Drogen im Spiel waren, will Münzer wissen. Davon habe er nichts mitbekommen. Er schätze, dass A. etwa eine Flasche Wodka getrunken habe, er habe sich aber ganz normal verhalten.

    Als er dann von dem Unfall mitbekommen habe, sei das ein Schock gewesen. Dass A. so viel getrunken habe, sei selten gewesen. Auf Nachfrage, ob man A. nicht zum Bleiben überreden wollte, meint der Zeuge. Er wollte unbedingt nach Hause gehen.

    Lange Bekanntschaft

    Als nächste Zeugin schildert die Frau, die der Angeklagte mit ihrer Tochter von der Hohlgasse abgeholt und zum Flughafen gefahren hatte die Geschehnisse der  verhängnisvollen Nacht. Zunächst aber ließ sich das Gericht schildern, wie  die 55-Jährige den Angeklagten kennen gelernt hatte. Das liegt schon lange zurück. Als der Angeklagte als Asylbewerber in Schramberg ankam, hatte die Zeugin ihn im Asylbewerberheim kennen gelernt, weil sie ihm dort begegnet war. Sie hatte dort Familien und Kindern geholfen.

    Es sei kein intensiver Kontakt gewesen, erst Ende 2016 habe man sich wieder getroffen. Sie habe ihm gelegentlich geholfen, etwa bei Bewerbungsschreiben. Er habe ihr gesagt, wenn sie Hilfe brauche, solle sie sich melden. Weil ihre Tochter zu Besuch war und sie gemeinsam nach Norddeutschland zurückfliegen wollten, habe sie ihn gefragt, ob er sie zum Flughafen fahren könne. Er habe gleich zugesagt, und man habe sich für die Abfahrt am 17. März um etwa viertel nach Vier verabredet.

    Das Auto hat gescheppert

    Er sei dann auch pünktlich gekommen, aber das Auto habe „ gescheppert“, als es die Hohlgasse hochkam. Sie habe ihn gefragt, was da los ist und er habe gesagt, er weiß es nicht. Dann hätten sie gesehen, dass eine Flüssigkeit ausläuft und beschlossen, mit ihrem Auto zu fahren.

    Richter Münzer bohrt nach. Sie hätten um 4 Uhr 05 miteinander telefoniert. Da habe er gesagt, er sei unterwegs. Münzer will wissen, woran sie erkannt habe, dass der Angeklagte nicht gefahren sei. Welche Geräusche sie denn gehört habe. Das wisse sie nicht mehr, sie sei nur sicher, dass er nicht gefahren sei, als er telefoniert habe.

    Was hat sie gesehen?

    Münzer will weiter wissen, was er denn zu dem Schaden am Auto gesagt habe. Er sei vorher schon in einer Werkstatt wegen des Kühlers gewesen und habe sich geärgert, dass es wieder tropft. Es hätte ein Plastikteil runtergehangen, das habe er abgemacht und in den Kofferraum gelegt. Ob er denn etwas gesagt hätte, dass da auf der Fahrt etwas passiert sei? Nein.

    Nach Stuttgart sei ihre Tochter gefahren. Der Angeklagte sei auf der Rückbank wohl eingeschlafen. Später nach dem Flug habe sie vergebens versucht ihn zu erreichen, um zu fragen, ob alles geklappt habe.

    Als sie von der Polizei bereits informiert war, hätten sie telefoniert, und er habe ihr berichtet, wie die Polizei schon auf ihn gewartet hatte und er zusammen gebrochen sei. Er habe ihr berichtet, dass dichter Nebel geherrscht habe. Er habe gedacht, er habe „einen Ast oder anderen Gegenstand“ überfahren. Das habe sie sich vorstellen können, weil ihr das auch schon passiert sei. Der Angeklagte habe sich „Riesenvorwürfe gemacht“.

    Die Richterin fragt die Zeugin wie der Angeklagte auf sie am Unfallmorgen gewirkt habe: „Ganz normal, nicht gestresst“, so die Zeugin. „vielleicht ein bisschen müde.“ Die Staatanwältin fragt nach den Lichtverhältnissen beim Haus, als man sich das Auto angeschaut hat. Es gab wohl die Straßenlaternen und die Hausbeleuchtung. Ansonsten sei es  dunkel gewesen.

    Seit dem Anruf bis zu seiner Ankunft seien etwa zehn Minuten vergangen, erklärt die Zeugin. Der Verteidiger fragt nach Nebel. Den gebe es an der Steige häufiger um diese Jahreszeit, der ziehe vom Tal hoch. Wie er auf sie gewirkt habe? Ganz normal und ruhig. „Eigentlich ist er ein Schisser, ein Angsthase“, sagt die Zeugin. „Wenn die Parkuhr abläuft kommt er in Panik, dass er einen Strafzettel bekommt.“

    Der Unfallsachverständige will genauer wissen, wo das Auto stand, wie die Lichtverhältnisse waren, was zu sehen war.

    Schwierige Zeugin

    Der Vorsitzende Richter schaltet sich erneut ein, er fragt, wann die Zeugin zuletzt Kontakt mit dem Angeklagten hatte. „Gestern“, meint sie leise. Es stellt sich heraus, dass der Angeklagte sie am späten Nachmittag angerufen hatte, weil er  die Erklärung von seinem Anwalt geschickt bekommen, aber nicht wirklich ganz verstanden hatte.

    Münzer: „Sie sprechen von einem ‚Ast oder sonstigen Gegenstand‘ das ist wortgleich mit der Einlassung des Angeklagten. Haben sie die Einlassung gelesen?“ – Flüchtig.“ Es stellt sich heraus, dass der Angeklagte seine Einlassung der Zeugin per WhatsApp geschickt hatte.

    Münzer schüttelt nur den Kopf: „Man denkt, dass man schon viele Jahrzehnte dabei ist – und wird doch immer wieder überrascht.“ Auch für den Verteidiger ist das eine „saublöde Vorgehensweise“, macht es doch die Aussage der Zeugin ziemlich wertlos.  Im Weiteren stellt sich heraus, dass der Angeklagte bei seinen Hilfebitten auch weitere schreiben des Gerichts mit der Zeugin besprochen hatte, damit sie ihm hilft, diese zu verstehen.

    Die Tochter bestätigt ihre Mutter

    Als nächste Zeugin befragt Münzer die zweite Mitfahrerin die Tochter vorherigen Zeugin.  Die 31 jährige bestätigt im Wesentlichen die Aussagen ihrer Mutter. Sie erinnert sich allerdings, dass sie Plastikteile am Heck des Autos weggenommen und in den Kofferraum gelegt habe. Sie habe die Unterlagen nicht gesehen. Wie das mit den Leisten war, will die Richterin wissen. Ob sie oder der Angeklagte die entfernt hätten. Das wisse sie nicht mehr. Auch sie bestätigt, dass der Angeklagte an diesem Morgen ganz ruhig gewesen sei.

    Verteidiger: „Mehr als unglücklich“

    Mit einer Erklärung  versucht Verteidiger Mussgnug die Aussage der Zeugin zu retten. Die beiden seien eben seit langem miteinander bekannt, sie sei eine Vertraute, die ihm helfe bei Krankenkasse und allen solchen Dingen. Er habe den Angeklagten gebeten, die Einlassung „Satz für Satz“ zu lesen und Bescheid geben, wenn alles so richtig sei. Am Freitag 17.59 habe er angerufen, er habe es sich übersetzen lassen und alles sei ok. „Er hat mir aber nicht gesagt, dass es die Zeugin war, die ihm geholfen hat. Ich hätte ihm sonst gesagt, dass das mehr als unglücklich war.

    In der Folge möchte der psychiatrische Gutachter genau wissen in welcher Dosierung der Angeklagte möglicherweise  das Mittel Promethazin eingenommen habe. Wenn er es genommen habe, dann 20 bis 25 Tropfen zwischen 20 und 21 Uhr. Er nehme das Mittel nicht regelmäßig, aber es helfe ihm gut.

    „Er ist ein guter Mensch“

    Die nächste Zeugin ist die geschiedene Ehefrau des Angeklagten. Ihr zur Seite eine Dolmetscherin. Die 37-Jährige lebt  inzwischen in einer anderen Gemeinde im Kreis Rottweil mit dem gemeinsamen sechsjährigen Sohn. „Er ist ein guter Mensch, ein guter Vater“, schickt die Ex-Ehefrau voraus.

    Auch nach der Trennung im Januar 2018 und der Scheidung 2019 seien sie in gutem Kontakt und sie habe ihm bei Problemen geholfen. Sie hätten vier oder fünf Jahre zusammen gelebt, bis sie schwanger wurde, dann geheiratet. Miteinander hätten sie sich auf Deutsch unterhalten. Während der Zeugenaussage bricht der Angeklagte in Tränen aus, braucht ein Taschentuch. Es nimmt ihn sichtlich mit.

    „Er hat immer nur geweint“

    Am Tag des Unfalls habe sie ihn zunächst nicht erreicht. Dann habe er angerufen und „nur geweint und geweint“. Von der Polizei habe sie erfahren, dass er einen Menschen überfahren haben soll. „Er hat gesagt, er wüsste es nicht.“ Er habe ihr gesagt er habe das Gefühl gehabt, dass mit dem unteren Teil des Autos etwas nicht stimmt. Er habe angehalten, sei zwei bis drei Meter rückwärts gefahren, es sei sehr dunkel gewesen und er habe sich nicht aus dem Auto getraut und sei wieder weiter gefahren.

    Er habe immer geweint, wenn sie über den Unfall gesprochen hätten. Deshalb habe sie nicht weiter gefragt. Sie hätten sich zuletzt am vergangenen Wochenende getroffen, da habe sie den gemeinsamen Sohn zu ihm gebracht.

    Bruder: „Er hätte angehalten“

    Der nächste Zeuge ist er 46-jährige Bruder des Angeklagten. Er berichtet von der gemeinsamen Jugend im Iran. Wie sein Bruder sei er wegen politischer Probleme im Iran nach Deutschland geflohen. Sein Bruder habe eine ganz dicke Brille gehabt und sich in der Türkei 2002 Lasern lassen.

    Nach dem Unfall habe er sich sorgen  gemacht und versucht herauszufinden was passiert war. Er habe seinen  Bruder im Krankenhaus besucht, er sei sehr aufgeregt gewesen und habe sich schwere Vorwürfe gemacht. Er habe gedacht ein Ast oder so etwas sei da auf der Straße gelegen. Er sei seit 20 Jahren in Deutschland. „Wir wissen, wir müssen anhalten und die Polizei rufen, wenn so etwas passiert. Mein Bruder hätte angehalten.“

    Wurde der Angeklagte bedroht?

    Der Nebenkläger fragt, was mit dem Auto des Angeklagten geschehen sei. Er habe es nicht mehr gesehen, berichtet der Zeuge und zeigt dann hinüber. „Seine Leute haben meinen Bruder gesucht, wollten ihn schlagen. Ich habe ihn gewarnt, er soll nicht aus dem Haus gehen.“ Richter Münzer fragt nach: „Das war damals nach dem Unfall?“ – „Ja.“ – „Es gab dann ja auch direkte Ansprachen der Polizei.“

    Polizeibeamte berichten über Ermittlungen

    Zwei weitere Zeugen hört das Gericht. Polizeibeamte, die die Unfallaufnahme und die Ermittlungen schildern. Beim Besuch im Krankenhaus habe der Angeklagte erklärt er habe nichts mitbekommen, so ein Beamter. Er habe seinen Laptop freiwillig herausgegeben, DNA- und Blutproben zugelassen und auch Kleidung  herausgegeben.

    Das Gericht klärt noch die Wegstrecken mit dem Zeugen ab. Der Versuch über die GPS-Daten des Handys herauszufinden, wann der Angeklagte genau gefahren und angehalten habe, sei allerdings nicht gelungen. Dass die Straße zwischen 22 und 6 Uhr für den Durchgangsverkehr ab dem Gasthaus Napoleon gesperrt ist, wurde noch geklärt, und dass beim Bundeszentralregister keine Einträge für den Angeklagten vorliegen.

    Am Montag werden die drei Sachverständigen gehört. Dabei besonders wichtig werden die Ergebnisse des Unfallsachverständigen sein.

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    Martin Himmelheber (him)
    Martin Himmelheber (him)
    ... begann in den späten 70er Jahren als freier Mitarbeiter unter anderem bei der „Schwäbischen Zeitung“ in Schramberg. Mehr über ihn hier.