Ein paar U-Boote zu viel

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SCHRAMBERG  (him) –  Wer hat wem wann genau „eine gezogen“? Und wer hat wen wann wo weggezogen? Schwierige Fragen, zu denen Richter  Rach beim Amtsgericht Oberndorf am Donnerstag Antworten gesucht hat. Ein Verhandlungstag hat zur Wahrheitsfindung nicht ausgereicht. Die Gerichtsverhandlung wird im Februar und März an zwei weiteren Verhandlungstagen fortgesetzt.

Angeklagt ist ein 27-Jähriger Mann aus einer Schramberger Umlandgemeinde. Die Staatsanwaltschaft wirft  Thomas P. (Name geändert) vor, an der Fasnet 2019  am Freitagabend in Sulgen vor der Kickerstube einem anderen jungen Mann „wuchtig auf den Mund geschlagen“ zu haben. Dabei hat er einen Zahn sofort ins Freie befördert, drei andere wackelten so sehr, dass sie der Geschädigte später ziehen lassen musste.

Wer hat angefangen?

Klingt simpel, ist es aber nicht. Der Angeklagte, Schlosser von Beruf, hat nämlich ausgesagt, dass er zuvor von seinem späteren Opfer und einem anderen jungen Mann zu Boden geworfen worden war. Er sei dann aufgestanden und habe „Schiss“ gehabt, dass der Andere ihm „nochmal eine zieht. Und dann hab ich ihm eine gezogen.“ Mit den bekannten Folgen für Antony C. (Name geändert).

Was die Sache noch komplizierter macht: Der Kontrahent und sein Freund sind beides Engländer, die aus Hastings gekommen waren, um in Schramberg Fasnet zu feiern. Und schließlich hat die Staatsanwaltschaft einen ersten Gerichtstermin verbaselt, sodass nun fast drei Jahre nach der Klopperei erst verhandelt wird. Dass praktisch alle Zeugen – bis auf den Polizeibeamten – zur Tatzeit reichlich „U-Boote“ und andre hochprozentige Sachen hinter die Binde gekippt hatten, verbesserte weder ihr Denkvermögen zur Tatzeit noch ihr Gedächtnis jetzt vor Gericht.

Gefährliches Pflaster: die Kickerstube

Worin sich alle einig waren: In der Kickerstube war es genagelt voll. Und auch die Besucher waren teilweise hackedicht. Es gab Geschubse und Gedränge. Über das Verhalten des Angeklagten gehen die Meinungen schon auseinander. Der Schlosser erinnert sich, dass es drin schon eine Auseinandersetzung mit den Engländern gab, weil die sein Getränk verschüttet hätten.

Er sei dann raus auf die Toilette gegangen. Draußen sei er von den Engländern zu Boden geschubst worden. Die beiden seien auf ihm drauf gelegen. Andere hätten die beiden weggezogen, er sei aufgestanden – und habe zugeschlagen. „Weil ich auf dem Boden auch schon gut kassiert hatte.“

Er habe heftig an der Hand und am Oberarm geblutet. Nach dem Schlag sei er in die Kickerstube zurückgegangen. Dort habe die Polizei ihn dann rausgeholt und ihm Platzverbot erteilt. Beim Sanka hätten die Sanis ihn noch verbunden. Er sei dann nach Hause gegangen, erzählt der 27-Jährige. Ob denn das Blut sichtbar gewesen sei, will Richter Rach wissen. Ja, denn er habe eine weiße Hose und ein T-Shirt angehabt. Das hätten alle gesehen. Wie die Verletzungen entstanden, weiß er aber nicht mehr. Sein Anwalt zeigt dem Gericht auf dem Smartphone Fotos von den blutigen Klamotten, die er grade erst  bekommen habe.

Nebenkläger und Zeuge

Als erster Zeuge sagt der junge Engländer aus. Der 24-Jährige ist eigens aus Hastings angereist. Er sitzt auch als Nebenkläger im Prozess. Er sei Gerüstbauer von Beruf, übersetzt ein Dolmetscher. Gerade mal vier Stunden seien sie im Land gewesen, als das bei der Kickerstube passierte. An viel könne er sich nicht mehr erinnern. Er sei erst wieder zu sich gekommen, als er im Krankenhaus war. Aber Freunde hätten ihm erzählt, was passiert war.

Die Folgen des Faustschlags waren für Antony C. gravierend: Er verlor vier vordere Zähne, die inzwischen durch Implantate  ersetzt sind. „Ich habe anderthalb Jahr nur weiche Koste essen können“, berichtet er. Sein Zahnfleisch sei bis heute geschädigt. Ob auch sein Kiefer gebrochen war, wie  es im Bericht des Rottweiler Krankenhauses steht, wisse er nicht.

In der Kickerstube sei es „very busy“ gewesen, laute Musik, viel Gedränge, ja auch Geschubse. Weshalb er denn mit seinem freund rausgegangen sei, möchte der Verteidiger des Angeklagten wissen. Sie hätten aufs Klo wollen. An das, was dann passierte, könne er sich nicht mehr erinnern, so Antony C.. Auch wo genau er den Schlag abbekommen hatte, weiß er nicht mehr.

Nach drei Jahren verblast die Erinnerung

Als zweiter Zeuge sagt ein Freund des Opfers aus. Er sei aber erst dazu gekommen, als Antony schon auf dem Boden gelegen habe. „ Da war schon alles geregelt.“ Wer angefangen hatte, habe er nicht gesehen, nur dass der Angeklagte Antony auf die rechte Backe geschlagen habe.

Ob er den vorher in der Kickerstube gewesen sei, fragt Richter Rach. „Nein, ich bin von zuhause gekommen. Dass er bei der Polizei etwas anderes gesagt hat, hält der Richter dem 23-Jährigen nun vor. Er könne sich nach so langer Zeit eben nicht mehr genau erinnern. Er wisse nur, dass „eigentlich schon alles deeskaliert“ gewesen sei, als der Schlag kam.

Thomas P.  sei betrunken gewesen, schließlich sei es ja Fasnet gewesen, meint er. Wie viel Zeit denn zwischen dem Aufstehen des Angeklagten und dem Schlag vergangen sei, will Richter Rach wissen. Nun wird das Gedächtnis schwächer und schwächer. Immer öfter kann sich der Zeuge nicht erinnern – und wird schließlich entlassen.

Viel Alkohol im Spiel

Der dritte Zeuge, ein 22-Jähriger berichtet, dass es vor der Kickerstube eine Rangelei gegeben habe. Der Angeklagte habe sich geärgert, dass die beiden anderen Englisch gesprochen hätten. Er habe dann die Polizei gerufen, weil er Angst hatte, es könne wieder losgehen. Der Schlag habe für ihn ausgesehen, als ob er „aus dem Nichts“ gekommen sei.

Wo er gestanden habe, wie genau er das gesehen habe, so genau habe er das nicht gesehen, er habe ja mit der Polizei telefoniert. Was man denn  getrunken habe, will Richter Rach erfahren. „U-Boote.“ Das sei Fanta Wodka und Wein, erklärt der Zeuge. „Das trinken die meisten in der Kickerstube.“

Auch von diesem Zeugen möchte der Richter wissen, wie viel Zeit zwischen  dem Aufstehen des Angeklagten und dem Faustschlag vergangen ist. Fünf bis zehn Minuten meint er. Dazwischen sei es ruhig geworden. Die Verletzungen und das Blut an Thomas P.s  Kleidung habe er nicht bemerkt.

Ermittlungen mit Hindernissen

Lange warten musste als letzter Zeige ein Polizeikommissar aus Schramberg, der am Tatabend im Einsatz war. Er berichtet von einem Alkoholtest beim Angeklagten, der 2,7 Promille ergeben habe. Er habe aber den Anweisungen der Polizei folgen können. Sie hätten ihm schließlich einen Platzverweis erteilt.

Am Samstag habe eine Kollegin den Geschädigten vernommen, der sich aber an nichts erinnern konnte. Leider sei er bereits am Sonntag nach England zurückgeflogen. Er habe zum Geschädigten selbst keinen Kontakt gehabt, aber im Umfeld recherchiert und Zeugen befragt. Nach diesen Aussagen sei es dann zur Anzeige wegen Körperverletzung gekommen.

Verfahren geht weiter

Ob er von einem weiteren Zeugen wisse, einem  Ulli M. (Name geändert.), fragt der Richter. Den hätte der Verteidiger benannt, in den Akten sei er aber nicht aufgetaucht.  Die Staatsanwaltschaft habe diesen Zeugen zwar mal genannt, aber nicht aufgefordert, dass er ihn vernehmen solle. Auf Wunsch des Richters findet der Zeuge in einer Unterbrechung Name und Adresse.

Es entwickelt sich ein verbaler Schlagabtausch zwischen dem Nebenklagevertreter und dem Verteidiger. Der eine wirft dem anderen Verfahrensverzögerung vor, der Nebenkläger warte nun schon ein Jahr auf den Prozess, das sei blamabel für die deutsche Justiz.

Richter Rach gibt zu, das sei „verfahrenstechnisch nicht gut gelaufen“. Offenbar hatte bei einem ersten Termin die Staatsanwaltschaft ein falsches Datum angegeben, weshalb ein Prozesstermin geplatzt war. Auch deshalb schlägt Rach vor, ob man nicht eine andere Lösung finden könne. Die Zeugen seien ja „schwierig“ gewesen. Eine Einstellung komme vom Vorwurf her eher nicht in Frage. „Gegen Auflagen?“ stellt er in den Raum. Der Verteidiger will auf einen Freispruch hinaus, auch der Staatsanwalt möchte ein Urteil.

Nun sollen bei einem Termin am 7. März weitere Zeuge erscheinen. Dazwischen liegt noch ein „Schiebetermin“, weil sonst die Fristen nicht eingehalten werden könnten.  Dann, fast auf den Tag genau drei Jahre nach dem verhängnisvollen Schlag, sollte der Angeklagte ein Urteil bekommen. Schuldig oder nicht.

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Martin Himmelheber (him)
Martin Himmelheber (him)
... begann in den späten 70er Jahren als freier Mitarbeiter unter anderem bei der „Schwäbischen Zeitung“ in Schramberg. Mehr über ihn hier.