„Demokratie in Gefahr?“

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Schramberg. „Eindrucksvoll“, „sehr lebendig“, überzeugend“, „ausgezeichnet“ – das waren einige Urteile von Zuhörerinnen und Zuhörern nach Altbundespräsident Christian Wulffs Vortrag im Schramberger Schloss am frühen Freitagabend. Auf Einladung einer Schramberger Bürgerin, die ihren Namen nicht genannt haben wollte, die aber dennoch alle kannten, war Wulff nach Schramberg gekommen.

Oberbürgermeisterin Dorothee Eisenlohr begrüßte den Ehrengast ein zweites Mal. Sie freue sich auf den Vortrag. Wir betrachteten die Demokratie wie die Luft zum Atmen: „Sie ist halt da.“ Aber sie werde immer wieder bedroht.
Wulff, erinnerte sie, sei von 2003 bis 2010 Ministerpräsident von Niedersachsen, dann zwei Jahre bis zu seinem Rücktritt 2012 Bundespräsident gewesen. Heute habe er zahlreiche Ehrenämter unter anderem sei er Vorsitzender der Stiftung Integration.

Eisenlohr erinnerte an die Gemeinderatssitzung vom Vorabend. Bis 22.30 Uhr habe man „Demokratie im Alltag“ erleben können: Das Ringen um die beste Lösung bei der Tennenbronner Halle oder bei den Wohnmobilstellplätzen. „Am Schluss standen Beschlüsse, die für die allermeisten ok waren.“ Demokratie sei, zitierte Eisenlohr Abraham Lincoln, „die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk“.

Gut über Schramberg informiert

Wulff begann seine zu Beginn ganz auf Schramberg zugeschnittene Rede mit der weltoffenen Fünf-Täler-Stadt: Fünf Zugänge zur Welt außen herum. Er erinnerte an Trumpf Laser, Kern-Liebers und Junghans, die einst weltgrößte Uhrenfabrik, die heute noch Weltgeltung habe. In Tokio habe er dort Funkuhren von Junghans an den Hochhaustürmen gesehen.

Auch erzählte er eine Anekdote aus einer Begegnung mit dem damaligen indischen Ministerpräsidenten Manmohan Singh. Der habe ihm 2008 erzählt, er habe seiner Mutter nach seinem Studium in England eine Junghans Uhr mitgebracht und ihr erklärt, das sei eine tolle Schweizer Uhr. Die Mutter habe ihren Sohn korrigiert: Junghans ist eine deutsche Uhr – und sich sehr über das Geschenk gefreut. Wulff riet der Firma Junghans, doch Singh der im vergangenen Jahr 90 Jahre alt geworden war, einen Brief zu schreiben und nachträglich zu gratulieren. Mal sehen….

Die „gute alte Zeit“ war gar nicht gut

Wulff zählte neben vielem anderen als Gründe für die deutschen Erfolge nach dem zweiten Weltkrieg die Dezentralität und das starke bürgerschaftliche Engagement auf. Die „Vereinsmeierei“ sei doch etwas Positives, sie bringe Menschen zusammen. „Wenn Menschen sich kennenlernen, kommen sie sich näher.“

Er beschrieb die Krisenhaftigkeit unserer Zeit. Die Folgen von Corona müssten noch aufgearbeitet werden. Und dann der Krieg in der Ukraine. Und nun auch noch eine Bankenkrise. Viele Menschen fühlten sich überfordert: „Zu viel, zu schnell, zu unübersichtlich. Sie träumen von der guten, alten Zeit.“ Das aber sei der Nährboden für Hass.

Bei einem kurzen Abriss der Geschichte seit 1848 zeigte Wulff, das die „gute alte Zeit“ eben keineswegs so gut war. Allgemeines Wahlrecht erst 1918, Hyperinflation und Hitlerputsch 1923. Die Nazis an der Macht 1933. Er wusste und lobte, dass noch am 6. Februar 1933 in der Arbeiterstadt Schramberg 2500 Menschen gegen die NS-Herrschaft demonstriert haben. Aber: „Menschen nehmen in Krisenzeiten die Diktatur in Kauf.“ Es gebe nach einer Untersuchung weltweit nur 24 echte Demokratien.

Glücksfall EU

Die Europäische Einigung nach dem Krieg und die Tatsache, dass es seit 78 Jahren keinen Krieg mehr auf deutschem Boden gegeben habe, sei außergewöhnlich. Das müsse man bei aller Kritik an „denen in Brüssel“ immer bedenken: „Niemand muss mit dem Angriff eines anderen EU-Landes mehr rechnen.“
Und dann kommt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine: „Manche haben nichts aus der Geschichte gelernt.“ Wieder stürben zehntausende Soldaten wie im ersten Weltkrieg wegen ein paar Metern zu eroberndem Land. Deshalb, so Wulff: „Die EU ist unser Glücksfall.“

Mit Blick auf die Gemeinderatsdiskussion meinte Wulff, die Kommunalpolitikerinnen und-politiker hätten nach dem Krieg ganz andere Themen gehabt: Die Menschen froren und hungerten.

Lage gut – Stimmung im Keller

Heute gelte es, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und unsere offene Gesellschaft zu bewahren. Das Problem: „Die Lage ist eigentlich gut“, so Wulff, „aber die Stimmung ist miserabel. Das verwundert mich.“ Die Flüchtlinge aus der Ukraine könnten mit „unsere Miesepetrigkeit nichts anfangen“. Sie wollten nur in Frieden leben. Die Fakten seien doch eindeutig: Es sei noch nie so sicher in Deutschland gewesen wie heute. Wir seien so gesund, lebten so lange, seien so reich und so gebildet wie nie zuvor. „Und trotzdem ist die Stimmung im Keller.“

Für alle Debatten um die richtige Lösung müsse gelten: Gewaltfreiheit, die Mehrheiten anerkennen und der Verzicht zu glauben, es gebe die absolute Wahrheit. Ihn irritiere „das Liebäugeln manche Menschen mit dem starken Mann oder der starken Frau“, so Wulff.

Aussagen, das System sei verrottet, oder die da oben machten, was sie wollten, werde denen, die sich politisch engagieren, nicht gerecht. Die größte Gefahr sei dann der Hass. Der Altbundespräsident erinnerte an die Opfer, einen Landrat, einen Regierungspräsidenten, den jungen Aushilfstankwart.

Er warnte vor der schleichenden Aushöhlung von Normen und Institutionen, vor Parolen wie „Deutschland zuerst“, der Ausgrenzung von Minderheiten. „Früher waren es die Juden, heute die Muslime.“ Wulff hatte als Bundesspräsident den in seiner eigenen Partei, der CDU, viel kritisierten Satz gesagt: „Der Islam gehört zu Deutschland.“

„Scheindemokratie“

Die sinkenden Mitgliederzahlen der Parteien alarmierten ihn. Kaum jemand motiviere seine Kinder, sich politisch zu engagieren. Die Lage sei durchaus ernst, wenn eine Allensbach-Umfrage ergebe, dass in Ostdeutschland 45 Prozent der Meinung seien, die Bürger hätten „nichts zu sagen“, man lebe in einer Scheindemokratie. Das sei sehr beunruhigend. „Demokratie funktioniert nur mit Demokraten. Es reicht nicht, nur von der Tribüne wie beim Fußball zu kommentieren.“

Als er in einer sehr schwierigen Situation gesteckt habe, habe der Kabarettist Dieter Hallervorden ihm geschrieben, es sei immer einfach, etwas nieder zu machen. Etwas besser zu machen, sei schwierig. Das habe ihn damals getröstet.

Das Problem, dank Internet und sozialer Medien diskutierten die Menschen nicht mehr auf derselben Grundlage. Früher gab es zwei Fernsehsender und alle hatten eine Tageszeitung. Heute wüssten die Leute oft nicht mehr, was in ihrer Gemeinde und im Land läuft, bedauerte Wulff. Die Gespräche würden feindseliger. „Jeder hat seine eigene Wahrheit.“ Die Algorithmen im Internet sorgten dafür, dass man immer nur die eigene Position wieder finde.

Fake News und Ich AG

Die Qualitätsmedien verlören an Bedeutung. „Jeder kann jeden Quatsch verbreiten.“ Spaltende und hasserfüllte Botschaften füllten die sozialen Medien. Fake News erschwerten jede Debatte. Die USA seien dafür ein schlimmes Beispiel.

Wulff forderte: „Wir brauchen Menschen, die sich nicht nur als Ich-AG sehen, sondern sich um das große Ganze kümmern.“ Angesicht der etwa 80 Zuhörerinnen und Zuhörer meinte Wulff, in Schramberg gebe es ja eine funktionierende Zivilgesellschaft, Menschen die sich einsetzen.
Die Angesprochenen dankten Wuff mit langanhaltendem Beifall.

Gut besuchter Vortrag von Alt-Bundespräsident Wulff im Schloss. Foto: him

Breite Diskussion

Bevor Eisenlohr eine Diskussion moderierte, hieß sie noch einige Abgeordnete, Gemeinderätinnen und Räte und einen Oberbürgermeister a.D. willkommen.
Mit einer philosophischen Frage wandte sich Jürgen Winter an den Alt-Bundespräsidenten. Wenn sich die Menschen immer mehr auf das eigene Ich bezögen, wie könne man dann das Gemeinwohl stärken?

Wulff entgegnete, jeder Mensch habe beides in sich, das individuelle und das soziale Wesen. Heute lebten in Deutschland 40 Prozent Singles. „Und das ist ok.“ Man müsse nicht immer und überall dabei sein. Auch dass die soziale Kontrolle weniger geworden sei, sei positiv. Die großen Gruppen müssten sich mehr anstrengen. Wulff kritisierte die Kirchen, die sich zu sehr mit sich selbst beschäftigten. In der Energiekrise hätten sie sofort die Temperaturen gesenkt und die Türen zu gemacht statt die Kirchen als Wärmestuben zu öffnen.

Aufnahmeantrag in der Tasche

Vereinen riet er, sie sollten das Ehrenamt nicht als Last schildern, sondern sagen, wie toll es doch sei, dabei zu sein. Die Parteien müssten stärker auf die Menschen zugehen: „Helmut Kohl hatte immer einen Mitgliedantrag in der Tasche.“ Wulff wendet sich an den CDU-Landtagsabgeordneten Stefan Teufel: „Haben Sie einen dabei?“ Unter dem Gelächter der Zuhörerschaft erwidert der: “Im Auto!“ Wulff: „Ich glaube, Kohl hätte das gelten lassen.“

Eberhard Pietsch sprach die Parteienlandschaft an und die Pläne zur Verkleinerung des Bundestags. Wulff fand, die Wahlkreise müssten vergrößert werden. Nach der jetzt von der Ampelregierung beschlossenen Lösung steige der Einfluss der Parteien. Die direkt gewählten Abgeordneten seien weniger Lobbyisten.

Achim Ringwald wollte von Wulff wissen, ob wir uns denn nun Sorgen um die Demokratie machen müssten oder nicht. Er mache sich dann große Sorgen, wenn die Tendenz weiter um sich greife, von der Tribüne zu brüllen, ohne sich selbst zu engagieren, antwortete Wulff. „Wenn die Mehrheit für eine gute Zukunft ist, wird sie gut.“ Die Zeiten seien immer schon turbulent gewesen. Er wolle die Sorgen deshalb auch nicht übertreiben.

Wen treffen Sanktionen?

Peter Renz fragte mit Blick auf den Iran nach der Sinnhaftigkeit von Sanktionen. Dort träfen die Sanktionen nicht die herrschenden Mullahs, sondern die Bevölkerung. Wulff entgegnete, angesichts der atomaren Bedrohung und der Menschenrechtsverletzungen sehe er keinen Anlass, die Sanktionen zu lockern. Wir müssten die Freiheitsbewegung dort stärker unterstützen und dürften nicht schweigen. Allerdings habe er auch „keine übertriebenen Erwartungen an die Wirksamkeit von Sanktionen“.

Thomas Brantner kam auf den CDU-internen Nachwuchs zu sprechen, der ihm vor Ort fehle. Wulff, einst selbst in der Schülerunion an der Spitze, kritisierte die heutige Parteijugend. Die würden das fordern, was die „Alten“ hören wollten. Das mache sie aber nicht sehr attraktiv. Außer den Grünen hätten die anderen Parteien ähnliche Probleme beim Nachwuchs.

Die Jugend von heute

OB Eisenlohr fragte nach der Generation Z. Diese jungen Leute hätten sehr unter Corona gelitten. Spielplatz- und Schulschließungen, das habe zu Einsamkeit geführt. „Wir haben viele Fehler gemacht“, bekannte Wulff. Die Generation Z zeige aber großes Engagement beim Klimawandel. Sorge mache ihm das Niedermachen in sozialen Medien. Es sei wichtig, junge Leute aufzuklären über die Gefahren im Netz.

Der Alt-Bundespräsident kritisierte den Begriff von der „Work-life-Balance“ und die Forderung nach der Vier-Tage Woche. “Arbeit ist auch Wertschätzung.“ Wenn sich junge Leute bei einem Bewerbungsgespräch gleich nach den Urlaubstagen erkundigten, sei es bei ihm vorbei: „Sie sollen erst mal anfangen, etwas leisten und dann gucken.“

Prompt erntete er Widerspruch von OB Eisenlohr: „Wir haben den technischen Fortschritt, gewinnen Zeit und brauchen weniger Arbeit.“ Es habe schon sehr lange keine Reduzierung der Arbeitszeit gegeben.

Nicht einmal die Ampelmännchen  kamen in den Westen

Gefragt nach der Bedeutung der politischen Bildung warf Wulff noch einmal einen Blick zurück. Nach dem Ende des Ostblocks sei vomn „Ende der Geschichte“ die Rede gewesen. Nun komme überall die Demokratie. Eine Fehleinschätzung. Mit Blick auf Russland meinte Wulff, man hätte damals Boris Jelzin finanziell beim Übergang zur Demokratie helfen sollen.

Der Übergang in der DDR sei rasant gewesen, zu schnell für die Menschen. „Wir haben zu wenig zugehört und zu wenig Respekt gezollt.“ Im Westen sei praktisch nichts geändert worden, „nicht einmal das Ampelmännchen“, im Osten fast alles. Daraus erwachse bei vielen Menschen das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.

Andererseits höre er im Osten immer wieder Klagen, alles mache zu. Bei ihm zuhause in Großburgwedel gebe es eine tolle Reinigung, einen Fahrradladen und ein feines Lokal. Betrieben von einst aus Afghanistan und Syrien Geflüchteten. In der zweiten Generation unterstütze er nun den Sohn aus einer der Familien, der nun in Harvard studiere. „Aber die wollt Ihr ja nicht“, sage er dann den Menschen in Thüringen. Wenn die Menschen dort nicht weltoffener würden, gingen im Osten eines Tages die Lichter aus.

Blumen für die Einladerin. Foto: him

 

Mit Blumen für die Schrambergerin, die den Abend mit Christian Wulff organisiert hatte, und Schwarzwälder Schinken für Wulff bedankte sich Eisenlohr für den besonderen Abend.

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Martin Himmelheber (him)
Martin Himmelheber (him)
... begann in den späten 70er Jahren als freier Mitarbeiter unter anderem bei der „Schwäbischen Zeitung“ in Schramberg. Mehr über ihn hier.

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