Ein guter Schluss ziert alles: Mit Herta Däubler-Gmelin hätte sich Marktplatz Kirche keine bessere Rednerin für die letzte Veranstaltung auswählen können. Die ehemalige Bundesjustizministerin sprach am Mittwochabend in der Aula des Schramberger Gymnasiums vor etwa 130 Besucherinnen und Besuchern über Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Schramberg. Die heute 81-Jährige Juristin aus Tübingen war von 1972 bis 2009 SPD-Bundestagsabgeordnete und von 1998 bis 2002 Justizministerin. Wegen ihrer oft scharfzüngigen Bemerkungen hatte sie sowohl in Bonn als auch später in Berlin den Beinamen „Schwertgosch“.
Auch in Schramberg war sie in ihrem dialogisch angelegten Vortrag nie um eine Antwort verlegen.
Der „Marktplatz-Kirche“-Initiator Klaus Andreae hatte Däubler-Gmelin auch im Namen der Mitveranstalter Stadt und Volkshochschule vorgestellt. Für den vierten im Bunde, den SPD-Kreisverband erwähnte Mirko Witkowski auch Däubler-Gmelins Rolle als Schirmherrin der deutschen Hospizbewegung.
Der Satz mit der Würde des Menschen sei „nach den schlimmen Erfahrungen des Dritten Reichs und dem Nationalsozialismus“ zentral und ganz bewusst ganz am Anfang des Grundgesetzes zu finden.
Ein Satz wie ein Paukenschlag
„Dieser Satz klingt wie ein Paukenschlag“, bestätigte Däubler-Gmelin. „Toll, großartig, aber was bedeutet er?“ Sie fragt, ob sich schon jemand im Publikum auf seine „Würde“ bezogen habe. Das geschehe eher selten. Den Gleichheitsgrundsatz oder irgendwelche steuerrechtliche Bestimmungen ziehe man sehr viel eher heran, als die „Würde“. Sie sei etwas Pathetisches, nicht Alltägliches.
Und doch, die Würde des Menschen ist unantastbar, nicht nur bei uns, sondern weltweit. In vielen Dokumenten sei dies so festgeschrieben. Das Besondere im deutschen Grundrecht sei, dass es sich nicht nur um einen unverbindlichen „Programmsatz“ handle, sondern als Recht formuliert sei, ein Recht, das man einklagen kann.
Von Migration bis Mobbing
Durch seine Stellung im Grundgesetz beziehen sich alle andren Grundrechte auf die Würde des Menschen. Allerdings: „Papier ist geduldig. Durch den Satz ist noch nichts bewirkt“, so Däubler-Gmelin. Es komme darauf an, konkret darum zu kämpfen.
Etwa in der Migrationsfrage: Wie weit können wirklich die Sätze für Geflüchtete heruntergeschraubt werden, bevor es an die Würde geht? Oder was machen Menschen im Sudan, die seit Jahrzehnten in Flüchtlingslagern leben? Wie ist es um deren Würde bestimmt? Oder bei uns: Sehr viele Schulkinder klagen, sie würden gemobbt. Was unternimmt die Gesellschaft dagegen?
Zwar habe der Staat die Aufgabe, die Würde des Menschen zu schützen. „Aber wir alle müssen uns da einbringen“, forderte Däubler-Gmelin.
Im Gespräch fand Ute Graf, neben der Migrationsfrage gelte es auch die Sozialstaatsfrage stärker in den Blick zu nehmen. Ein anderer Besucher fragte, ob die Menschenwürde und das Profitstreben überhaupt in Einklang zu bringen seien.
Ohne Profit könne ein Handwerker nicht existieren, entgegnete Däubler-Gmelin. Kritisch zu sehen sei die enorme Schere bei den Einkommen und Vermögen. „Das kann sich die Gesellschaft leisten, wenn auch die anderen 98 Prozent in Würde leben“, meinte Däubler-Gmelin. Sie fragte, wer die Standards festlege, ab wann man würdig lebt.
Respektvoller Umgang
Oberbürgermeisterin Dorothee Eisenlohr ist überzeugt, wir alle hätten „ein untrügliches Gespür, wenn die Grenze unterschritten“ werde. Es gehe um Essen, Wohnen, Kleidung, Bildungschancen und Teilhabe und den respektvollen Umgang miteinander. Wenn Pflegekräfte in Pflegeheimen keine Zeit für die Bewohner haben, dann habe das auch mit Würde oder deren Verletzung zu tun.
Die Standards sollten die Parlamente setzen und dabei auf eine Debatte in der Gesellschaft zurückgreifen können, fand Däubler-Gmelin.
Die rote Lederjacke
Am Beispiel des Lieferkettengesetzes und ihrer roten Lederjacke zeigt sie auf, was sie meint: Ihre Jacke stamme aus Backnang. „Da hat es früher gestunken wegen der Lederfabriken. Das sourcen wir jetzt alles out.“ Backnang stinkt nicht mehr. Dafür stinke es nun irgendwo in Bangladesch. Mit dem Lieferkettengesetz soll erreicht werden, dass auch dort hinnehmbare Bedingungen herrschen.
Klaus Andreae fragt, wie trotz des Kriegs Russlands in der Ukraine Gespräche mit Putin möglich sein sollen. Däubler-Gmelin ist skeptisch. Es gebe leider keine durchsetzungsfähigen internationalen Institutionen mehr. Die autoritären Herrscher zuckten mit den Schultern, wenn der internationale Gerichtshof in Den Hag etwas entscheide.
Axel Rombach war der Meinung, die Würde-Standards müssten immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden. Die Gesellschaft ändere sich, die Technik, die Kultur.
Es komme auf eine Bemerkung vom Beginn an: sich mit Respekt zu begegnen. „Behandle andere Menschen so wie du selbst behandelt werden willst“, so Däubler-Gmelin. Sie riet, Kinder in Vereine zu schicken. Dort lernten sie auch, „wie man ordentliche Kompromisse macht“. Das sei wichtig angesichts der gesellschaftlichen Spaltung und der Hetze gegeneinander, wie sie in den USA zu beobachten sei.
Auch ein Mörder hat Menschenwürde
Am Ende kam die Frage: „Kann man seine Würde auch verwirken? Wenn ein islamistischer Terrorist einen Anschlag verübt, beispielsweise?“ Däubler-Gmelin war ganz klar: „Auch ein Mörder hat Würde.“ Deshalb sei auch Folter immer verboten: „Wir dürfen auch einen Feind nicht foltern“, erinnerte sie an Abu Ghraib, „denn dann würden wir einen Menschen zum Ding herabwürdigen.“
In seinem Schlusswort dankte Andreae Herta Däubler-Gmelin für ihren „lebendigen und außergewöhnlichen Vortrag“ und bekam dafür viel Beifall. Mit einem Geschenkkorb mit fair gehandelten Produkten aus dem Weltladen beschenkte er die Rednerin.
Im Anschluss trafen sich die Gäste letztmals im Foyer, plauderten bei Wein oder Saft, Gebäck (und erstmals) Butterbrezeln über den Vortrag. Nach 127 Veranstaltungen und etwa 14.500 Besuchern endete die Marktplatz-Kirche-Reihe nach nunmehr 23 Jahren. (Wir werden noch berichten.)