Zweiter Tag im zweiten von noch weiteren Prozessen gegen einen 50-Jährigen aus Rottweil-Altstadt. Die Nachbarin des mutmaßlichen Unruhe- und Brandstifters kommt zu Wort – mit brüchiger Stimme und deutlichem Unbehagen. Und weiter kristallisiert sich heraus, dass der Mann wohl koboldhaft wie Rumpelstilzchen handeln kann, aus dem Nichts heraus ausflippen. Das könnte man als Spinnerei betrachten, hätte er mutmaßlich nicht hier schon zugetreten und dort bereits zugeschlagen. Offenbar ansatzlos. Oder wurde er gar gereizt? Doch gingen ihm auch im Gerichtssaal die Gäule durch. Eine Mitarbeiterin des Landratsamts bedrohte er mit dem Tode. Vor Zeugen.
Ein Wägelchen benötigen sie bei Gericht bisher nicht, um die Akten in den Saal zu bringen. Lange geht das aber wohl nicht mehr so, der wackelige Stapel aus Handakten misst jetzt schon rund 25 Zentimeter. Fälle, Fälle, Fälle. Protokolle, Vernehmungen, Ermittlungsergebnisse, Anklagen. Gummibänder kämpfen gegen die Papierflut an, bislang erfolgreich. Doch ist kein Ende abzusehen. Während der Vorbereitungen für den laufenden Prozess vor dem Rottweiler Amtsgericht sind neue Fälle hinzugekommen. Für ein künftiges Verfahren.
Im Zentrum: Y., wie wir ihn nennen. Wieder Krawatte über weißem Hemd und unter schwarzer Weste. Dieses Mal ist der Schlips gestreift in Grau, Rosa und Rot. Sein Gerichts-Outfit, aber geschmackvoll. Y.s Verteidiger trägt ebenfalls eine hellrosafarbene Krawatte. Uni. Die Mienen der beiden: Ernst. Es ist Montagmorgen. Y. zieht eine Schnute, wenn er sich für einen Moment vergisst. Kurz darauf ist er wieder ganz der Manager. Sitzt mit verschränkten Armen da, gesenkter, nachdenklicher Blick, hochgezogene Augenbraue, den Kopf zur Seite geneigt. Und schweigt. Zu den angeklagten Taten will er ja ohnehin nichts sagen.
Stressige Ermittlungsarbeit
Die erste Zeugin des Tages kommt vom KDD, vom Kriminaldauerdienst aus Singen. Die Polizeihauptkommissarin ist heute 32, sie wurde im August 2023 an die Vogelsangstraße gerufen. Auftrag: Untersuchung einer Brandstelle am Nachbarhaus von Y., sie sollte mit ihrem Kollegen ermitteln, ob „Brandlegungsmittel“ verwendet wurden. Da sei Y. hinzugekommen. „Er hat ein bisschen probiert, Aufmerksamkeit zu erregen, ist immer wieder provokant geworden. Hat mir immer wieder mit der Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet.“ Das habe sie sich verbeten. Und dann kamen die Beleidigungen: „Du Fo…, Du Drecksau, Du verfluchte. Elendiges Dreckspack.“ So sei er sie angegangen, berichtet die junge Frau. „Am Schluss noch der Mittelfinger.“ Für sie habe es „keinen augenscheinlichen Grund“ für sein Verhalten gegeben.
Während des Verfahrens ist vor dem Verfahren
Ziemlich irre: Während als Nächstes die Nachbarin von Y. für ihre Zeugenaussage hereinkommt, meldet sich ein Mann zu Wort, der mit ihr den Saal betreten hat. Es ist der Bruder der 70-jährigen Nachbarin. Ob er im Zuschauerraum Platz nehmen und der Verhandlung beiwohnen dürfe, fragt er höflich die Richterin. Und erklärt: Er werde Zeuge in einem künftigen Prozess gegen den Angeklagten Y. sein. Ob er sich also nun schon, im laufenden Verfahren, zurückhalten müsse. Das bedeutet: Ein Verfahren gegen Y., das das Amtsgericht mit einem Urteil gegen ihn – 14 Monate Haft – im vergangenen Jahr abgeschlossen hat, wird nach seiner Berufung noch dem Landgericht vorgelegt. Das zweite Verfahren läuft aktuell – und er wird mutmaßlich seine Rechtsmittel auch hier ausschöpfen. Und ein drittes Verfahren ist gerade in Vorbereitung. Als wäre es Y.s Beruf oder Berufung, Polizei und Justiz zu beschäftigen. Und die Nachbarn.
Und eine Todesdrohung mitten im Gerichtssaal
Und auf den ersten Blick völlig verrückt: Im Gerichtssaal, unter den Augen und Ohren der Amtsrichterin, des Staatsanwalts, des psychiatrischen Gutachters und einer Journalistin bedroht Y. am Montag eine Vertreterin des Rottweiler Veterinäramts offenbar mit dem Tode. Sie habe er „noch nicht umgebracht“, wird Y. zitiert. Der Staatsanwalt wertet das als vollendete Drohung, hat noch im laufenden Gerichts- ein neues Ermittlungsverfahren gegen Y. eingeleitet. Das Vergehen der Frau vom Landratsamt, die als Zeugin aussagt: Offenbar hielt Y. in seiner Wohnung zwei Vögel unter widrigen Bedingungen. Diese wurden ihm von Amts wegen weggenommen. Nach einer Anzeige aus der Nachbarschaft.
Schlaflose Nachbarin
Apropos Nachbarschaft. Am Montag war eine 70-Jährige als Zeugin geladen. Sie sagt mit brüchiger Stimme: „Ich kann nachts nicht schlafen“, seit Monaten sei das so. Der Stress mit ihrem Nachbarn, das nun laufende Verfahren belasteten sie sehr. Sie habe Angst, schaue nachts wiederholt nach, ob um ihr Haus herum alles okay ist. Denn „im Bereich Ihrer Hecke kommt es öfter mal zu Bränden“, fasst die Richterin zusammen. Und zu Übergriffen, wie es scheint: Sie habe mit Familienmitgliedern eine Überwachungskamera aufgestellt, die er beseitigt habe. „Weggerissen.“ Gesehen oder gefilmt habe sie ihn dabei nicht.
„Können Sie mir sagen, was er gegen Sie hat?“ Der Psychiater, der Y. beurteilen soll, will Hintergründe erfahren. Sie weiß es nicht. Sie habe keine Idee, was ihn an ihr gestört habe. Y. schweigt, zieht wieder seine Schnute. Ordnet seine Kleidung, notiert säuberlich ein paar Dinge auf seinem Block. Mit Interesse verfolgt er Aussagen, wonach er den Bruder der Seniorin einmal mit dem Fuß in den Hintern getreten haben soll. Und massiv beleidigt („Dumm wie Schei…“). Anlass: Der Bruder betrat beim Weggehen wohl Y.s Grundstück. Um für all diese Dinge nun Beweise zu haben, hatte sie eine Kamera installiert. Die ist aber inzwischen kaputt. Wobei es sich um eine von mehreren Kameras handelt. Gute Bilder geliefert habe bislang aber keine. Die Aufnahmen zeigten etwa eine Person, die sich nachts der Hecke am Haus der 70-Jährigen nähert – aber die Person trägt einen aufgespannten Regenschirm, bleibt unkenntlich.
Unvermittelt zugetreten
Die Amtsrichterin versucht alles, um Licht ins Dunkel zu bringen. So wurde der heute 69-jährige Bruder der Nachbarin spontan vom Zuschauer zum Zeugen. Wird doch hinausgebeten, dann hereingerufen, belehrt und vernommen. Das ist ein wenig wie bei der TV-Richterin Barbara Salesch, bringt aber den Prozess weiter. Und der 69-Jährige berichtet, wie er mit „Wi…“, „Ar…“ beleidigt worden sei. Der Mann ist Y.s ehemaliger Sportlehrer. Ein Senior mit fester Stimme, der sich seinerzeit beinahe mit Y. geprügelt haben will. Y.s Tritt in den Hintern, den habe er spontan eigentlich nicht einfach einstecken wollen. Er hätte sich gerne revanchiert, habe dann aber innegehalten. Und mit einer Strafanzeige gedroht. Die Reaktion darauf: „Das habe ich noch nie erlebt, er juckte (hüpfte) umeinander wie ein Rumpelstilzchen, zeig’ mich doch an, zeig’ mich doch an, zahlt alles der Staat.“ Als würde da ein Pubertierender herumhüpfen.
Der Grund für Y.s Verhalten – unbekannt. „Ich hab’ dem Mann nichts getan. Rein gar nichts getan“, sagt der 69-Jährige. Als sein Sportlehrer habe er ihm doch mal aus der Patsche geholfen. Als Mitschüler Y. damals in der achten oder neunten Klasse wegen einer im Sommer getragenen langen Unterhose gehänselt hätten, habe er eingegriffen. Umso unverständlicher sei es für ihn, dass Y. sich heute so massiv gegen ihn wende.
Interessant: Während Y. peinlich genau darauf achtet, dass niemand sein Grundstück betritt, Einsatzkräfte der Feuerwehr und der Polizei aggressiv angeht, wenn sie dies tun, und Nachbarn schriftlich warnt, erkennt er Grenzen anderer anscheinend nicht an. Um zu provozieren, betrete er ohne Probleme das Nachbargrundstück, ist zu erfahren. Nachbarn lässt er hingegen Einwurfeinschreiben zustellen, in denen er ihnen untersagt, sein Grundstück zu betreten. Und sieht sich dann im Recht, wenn er zutritt, wenn einer mal einen Fuß bei ihm absetzt, und sei es, um die Szenerie zu verlassen.
Unvermittelt zugeschlagen
So kann er offenbar aus heiterem Himmel zutreten. Oder zuschlagen. Ein heute 17-Jähriger berichtet, dass er seinerzeit zufällig Zeuge des Fußtritts gegen den Bruder der Nachbarin geworden war – und kurz später auf Höhe des Altstädter Friedhofs von Y. gestellt und gefragt wird, ob er den Tritt gesehen habe. Als der Junge das bejaht, habe Y. unvermittelt zweimal zugeschlagen. Blutende Schürfwunde, Nasenbluten, offene Lippe, Kopfschmerzen, Rettungswagen, Krankenhaus, Polizei, Anwalt, Strafantrag. Der junge Mann und Y. kannten sich vor diesen Schlägen offenbar nicht einmal persönlich. Das Erlebnis hat dazu geführt, dass er jetzt einen anderen Weg zur Arbeit nimmt. Nicht mehr an Y.s Haus vorbei.
Wie auch die Polizei leidet – unter dem „amtsbekannten Daueranrufer“
Neues Thema: Missbrauch von Notrufen. Das Konstanzer Führungs- und Lagezentrum der Polizei, erreichbar für Notfälle unter der 110, kennt kein Rezept gegen Y. Dieser wählt, wann immer ihm danach ist, die Notrufnummer und möchte dann zu seinen kleineren und größeren Problemen gehört werden. Ein Notruf ist das nach Einschätzung der Beamten, die er erreicht, nie. Was sie dann tun, berichtet eine junge Polizistin. So würden sie manchmal zuhören, auf ihn eingehen, ihm im Laufe des Gesprächs klarmachen, dass er die Leitung wieder für echte Notrufe freimachen müsse, ihm eine Anzeige wegen Missbrauchs von Notrufen drohe. Das habe ihn gelegentlich dazu gebracht, sie in Ruhe zu lassen. Oft aber auch nicht. Und wenn sie versuchten, ihn bei einem seiner ungezählten Anrufe abzuwürgen, das Gespräch rasch zu beenden, also nicht daran mitzuwirken, dass sie unnötig von einem Mann in Beschlag genommen werden, der keinen Notruf zu melden habe, führe das oft nur zu weiteren Anrufen. „Y. möchte gehört werden“, so die Beamtin. Er entscheidet offenbar, wann das erledigt ist. Niemand anderes.
Im Polizeiprotokoll wird Y. als aufbrausend bezeichnet und als äußerst respektlos. Und als „amtsbekannter Daueranrufer“. Der Dienstbetrieb im Führungs- und Lagezentrum werde stark durch ihn beeinträchtigt. An nur einem Abend rief er innerhalb von etwa eineinhalb Stunden mehr als 30 Mal die 110. Anlass: jemand habe Glasscherben auf sein Grundstück geworfen.
Y. und wie er die Welt sieht
Oder ist alles ganz anders? Lebt der Mann unter lauter Lügnern? Unter Menschen, die grundlos Falschaussagen machen, sich „warum auch immer“ gegen ihn wenden, wie er sagt? So sieht es in Y.s Welt offenbar aus. Ein Mann, mit Y. nach seinen Worten persönlich nicht bekannt, berichtet vor Gericht etwa, wie er einmal beobachtet habe, wie Y. sein eigenes Kellerfenster eingeschlagen hat. Mit einem Spaten. Um die geschilderte Uhrzeit sei er noch bei seiner Physiotherapie gewesen, hält Y., der gar nichts zu den Fällen sagen wollte, dem entgegen. Einen Nachweis dafür müsse er allerdings nicht erbringen, glaubt Y. Einen kurzen Disput mit der Amtsrichterin scheut er nicht. Aber er kündigt dem Zeugen gegenüber an, dass er Anzeige wegen Falschaussage erstatten werde.
Massenhaft Beleidigungen
„Irgendwann war das Maß voll.“ Damit begründet Rottweils Stadtbrandmeister im Zeugenstand seine erste Anzeige gegen Y. Es habe massenhaft Beleidigungen gegen ihn vonseiten Y.s gegeben. Die habe er lange Zeit weggesteckt. Auch, wenn ihm Y. in der Stadt im Vorbeifahren den Stinkefinger zeige – egal. Aber dieses „Wi…“ an jenem Abend, an dem es wieder einmal nahe dem Haus Y.s in der Altstadt gebrannt hatte, dieses habe dann wohl das Fass zum Überlaufen gebracht. „Wieso er mich derart beleidigt, weiß ich nicht.“ Er vermute, sagte der Feuerwehrkommandant, dass Y. „insgesamt etwas gegen die staatlichen Organisationen“ habe. Eine persönliche Vorgeschichte gebe es jedenfalls nicht. Dafür ist der Feuerwehrmann nach eigenen Angaben von Y. inzwischen zweimal als „Wi…“ bezeichnet worden. Er habe daher zweimal Strafanzeige erstattet. Was übrigens als Dienstherr des Stadtbrandmeisters der Oberbürgermeister erledigt.
In „an die hundert Fällen“ habe die Feuerwehr zu Einsätzen dort fahren müssen. Er könne sich an den einzelnen nicht mehr erinnern. Nun seien sie aber „deutlich zurückgegangen“, so der Feuerwehrkommandant. Er sieht als Grund die auf dem benachbarten Friedhof installierte Videoüberwachung der Stadt Rottweil. Als es dort zuletzt gebrannt hatte und zu einem Feuerwehreinsatz kam, habe Y. den Einsatzkräften Beifall geklatscht. Das sei schwer erträglich, so der Stadtbrandmeister. Und bei den vielen verbalen Übergriffen müssten er und seine Kolleginnen und Kollegen „oft zweimal schlucken“.
Bald ist der Psychiater dran. Und die Richterin.
Nach der Vernehmung der Zeuginnen und Zeugen wird es am Mittwochmittag ernst. Der Psychiater wird zu Wort kommen, Y. und seine möglichen Beweggründe für sein Tun einschätzen – und damit erheblichen Einfluss auf das Strafmaß nehmen. Was er sagt, wird die Öffentlichkeit direkt nicht erfahren, die Richterin folgte einem Antrag der Verteidigung auf Ausschluss der Öffentlichkeit für die Dauer der Erstattung des Gutachtens. Dann plädieren Staatsanwalt und Verteidigung wieder öffentlich – letztere wird Y. als Verfolgten darstellen, als jemanden, der auf eine feindlich gesinnte Umwelt reagiere. Und dann „gibt es wieder ein Urteil“, wie die Richterin ankündigte. Sie hatte Y. schon im vergangenen Jahr zu 14 Monaten Haft verurteilt – wogegen er sich juristisch wehrt. Und sie sagte bereits am Montag, mit wohl leicht vom Zorn geröteten Backen voraus: „Ich werde am Mittwoch auf jeden Fall verkünden!“
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