Er ist der Keith Richards unter den Komikern. Ein Senior im hohen Alter, aber unermüdlich mit Spaß und Können bei der Sache. Am Donnerstagabend gastierte der charmante Bühnenkünstler Jürgen von der Lippe in der Rottweiler Stadthalle. Volles Haus, recht neues Programm, Lachtränen allenthalben, drei Zugaben, neues, schickes Bühnenbild. Also alles bestens? Ja, fast.
Rottweil – Eigentlich kommt man ja, um etwas zu lernen. Zwischenmenschliches und allzu Menschliches, das sind doch Herrn von der Lippes Themen, da weiß er doch Bescheid. Seit das ehemalige Gebrüder-Blattschuss-Mitglied solo auf der Bühne steht, seit den ausgehenden 1970-ern, beschäftigt sich der heute 76-Jährige schließlich mit dem Verhältnis zwischen Mann und Frau – und wer von uns hätte da nicht noch dies und das zu lernen? Wer hätte nicht ein paar entscheidende Fragen offen? Von der Lippe gilt jedenfalls als einer, der um keine Antwort verlegen, der schnell im Kopf ist und, Nomen est omen, gerne mal eine freche Lippe riskiert. Der auf den Punkt kommt. Und der mit jahrzehntelanger Bühnenerfahrung weiß, was geht und was nicht. Der vor allem aber versucht, weiter auszuloten, was geht. Zur Freude seiner Zuhörerinnen und Zuhörer.
Auch ist es von der Lippes Markenzeichen, den geduldigen Lehrer zu mimen, den Erklärer mit sonorer Stimme, den Erklärbär samt entsprechendem Leibesumfang. Er nimmt einen mit auf die anekdotischen Ausflüge, in recht ruhigem Tempo, fast wie aus der Zeit gefallen, und dennoch perfekt getimt. Das ist vielleicht eine seiner größten Stärken: den Höhepunkt einer jeden Erzählung exakt in eine erwartungsvolle Pause zu setzen, in eine kurze Phase der gespannten Stille, sodass er seine Wirkung aufs Beste entfalten kann. Dicke Lachtränen rollen, als Folge von unkontrollierten Lachsalven. Auch ihnen gibt er den nötigen Raum, exakt bemessen. Setzt erst erneut an, wenn ihm wieder Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist, aber nie zu spät, nicht einmal einen Sekundenbruchteil. Sein Timing ist großartig. In Echtzeit angepasst an sein jeweiliges Publikum. Und es funktioniert bei von der Lippe übers TV-Panel hinein in die gute Stube ebenso wie live in einer leicht zugigen Stadthalle.
Und seine Witze, seine Pointen – nun ja, sie sind mal sensationell gut, mal sind sie flach wie der Bodensee. Letzteres aber sporadisch. Oft sind sie derbe, ordinär, versaut, dreckig, obszön, aber warum auch nicht, das Leben ist ernst genug – und manches muss man einfach auch mal sagen dürfen. Seine Scherze sind doch immer mindestens erheiternd, meist sogar richtige Brüller. Auch dann, wenn sie erwartbar sind, und ebenso, wenn man sie aus anderer Quelle zu kennen glaubt.
Ein Abend mit von der Lippe macht Spaß, ist kurzweilig, unterhaltsam. Zum Vergleich: Auch ein Torsten Sträter, beispielsweise, wirft verbal mit Fäkalien um sich, wirkt dabei aber deutlich beliebiger als der ebenfalls fäkalaffine, dagegen jedoch distinguierte von der Lippe. Auch, wenn dieser, was er sehr gerne tut, über Flatulenzen, übers Furzen spricht, wirkt er wie ein netter, älterer Herr, der einem doch nur weiterhelfen möchte. Der einen informiert, nicht belehrt. Der sich dabei nicht zu schade ist, sich selbst zum Gespött zu machen.
Sein neues Programm, das von der Lippe in seinen bunten Hemden nun auch schon wieder bald zwei Jahre lang aufführt, beschäftigt sich derweil gar nicht so umfangreich mit dem Thema Liebe und dem Verhältnis zwischen Mann und Frau. Auch an der Jugendsprache arbeitet er sich (gekonnt) ab. Etwas weniger gekonnt dargeboten: seine Sicht aufs Gendern. Was er sonst so vortrefflich meistert, nämlich auf den entscheidenden Punkt zuzuspitzen, seinen Zuschauerinnen und Zuschauern, aber oft auch sich selbst, einen Spiegel vorzuhalten, gelingt ihm hier nicht. Er überspitzt, die Mine bricht. Er verzerrt die Verhältnisse, wird unnötigerweise gegenüber der Bundesaußenministerin grob, driftet bei seinen Behauptungen zum Gendern ab in die Übertreibung und damit in die Unwahrheit.
Natürlich: Auch damit holt er viele im Publikum ab, aber von einem von der Lippe erwartet man nicht den Tenor einer beliebigen Telegramgruppe. Bei der Sektion des Verhältnisses zwischen Mann und Frau ist er deutlich treffsicherer. Oder, wenn’s um den Alkoholgenuss beziehungsweise das Saufen geht – da ist Selbstironie bei. Fein und akkurat abgemessen.
Wobei er ebenfalls brilliert: bei seinen Imitationen von Herbert Grönemeyer, Udo Lindenberg und vor allem von Peter Maffay. Sensationell. Und wie er Zugabe um Zugabe liefert, das Tempo hochhält, aber nie überdreht. Lachern weiter Raum gibt, kleine Erholungspausen einbaut, um dann wieder zuzuschlagen. Klasse.
Es folgt ein Vortrag über die Unterschiede männlicher und weiblicher Sichtweisen unter Einbeziehung neuester tierbiologischer Erkenntnisse. Nach einem kleinen Exkurs über Epikur und seine Ansichten über das Abwägen zwischen flüchtigem Genuss und den Langzeitfolgen findet der Text sein fulminantes Ende in einer durchaus selbstironischen Betrachtung von Sex im Alter.
Jürgen von der Lippe über einen Teil seines aktuellen Programms.
Und? Lernt man nun was bei von der Lippe? Zunächst einmal lernt kein Mann in den zwei Stunden mit dem Bühnenkünstler, Frauen besser zu verstehen. Und keine Frau wird sich anschließend mit Männern besser auskennen. Aber man lernt etwas anderes: Humor ist nicht nur, wenn man trotzdem lacht, Humor ist gerade dann, wenn man über sich selbst lachen kann. „Voll fett“, nennt er sein aktuelles Programm, und spielt damit deutlich auch auf sich an. Bei allem Spiegelvorhalten zeigt von der Lippe primär eines: Er kann sich auch selbst auf die Schippe nehmen, charmant und ohne grob zu werden. Und von der Lippe zeigt, dass es sich lohnt, unermüdlich zu bleiben. Auch, wenn man Menschen nur gut unterhalten will.
Info: Nächste Stationen des Bühnenkünstlers sind Pforzheim (CCP) am 27.09.24, Donauhalle Donaueschingen am 28.09.24 und Stadthalle Kirchheim/Teck am 29.09. Mehr unter https://roth-friends.de/artist/?id=491