Uwe B., der im Januar 2020 eine Mitarbeiterin des Jobcenters Rottweil mit einem Küchenmesser angegriffen und lebensgefährlich verletzt hat, ist am Dienstag von der Großen Schwurgerichtskammer des Rottweiler Landgerichts unter Vorsitz von Richter Karl-Heinz Münzer vom Tatvorwurf des versuchten Mordes freigesprochen worden. Dennoch wurde er anschließend gefesselt abgeführt.
Es sei nicht auszuschließen, dass der vor Jahrzehnten an einer wahnhaften Störung erkrankte Mann vermindert schuldfähig sei. Deshalb ein Freispruch. Zugleich wurde er zivilrechtlich zu einem Schmerzensgeld in Höhe von 50.000 Euro an sein Opfer verurteilt – denn andererseits sei nicht erwiesen, dass er tatsächlich schuldunfähig ist. Zudem ordnete die Kammer die weitere Unterbringung B.s in einer psychiatrischen Klinik an. Seine Zukunftsprognose gilt als schlecht, er selbst als weiter gefährlich, sein Geisteszustand als schwer therapierbar. „Lassen Sie sich behandeln“, sagte der Vorsitzende Richter abschließend, „das ist dringend vonnöten.“ Uwe B. war das piepegal.
Gefasst, anscheinend sogar gut gelaunt – und ganz in Schwarz ist der Angeklagte, Uwe B., am Dienstag zur Urteilsverkündung erschienen. Jeans, Sweatshirt, locker zurückgelehnt sitzt er da. Sein einziges mitgebrachtes Accessoire: der Mundschutz. Ein weiteres Accessoire, das er verpflichtend trägt: die Fußfesseln. Die Handschellen sind ihm abgenommen worden. Allerdings wachen zwei Security-Mitarbeiter und ein Justizangestellter darüber, dass er sich anständig verhält. An den Füßen trägt B. Fila-Sport-Sneaker. Doch er kann er sie kaum brauchen. Rennen ist nicht drin.
B. hatte das letzte Wort, wie in der deutschen Rechtsprechung üblich. Er winkt ab, als der Richter ihm die Möglichkeit erläutert. Und sagt knapp: „Ich verzichte.“ Eineinviertel Stunden lang hatte B. den Ausführungen zunächst der Staatsanwaltschaft gelauscht, dann denen des Nebenklagevertreters im Namen seines Opfers Daniela E. (Name geändert) und schließlich denen seines Verteidigers. Bei der Urteilsverkündung selbst bleibt B. demonstrativ sitzen. Eine letzte Missachtung des Gerichts. Die dauernden Zwischenkommentare lässt der Richter zudem ungestraft.
Eine Tat, drei Juristen, drei Wertungen
Eine Verurteilung wegen versuchten Mordes – das forderte der Nebenkläger. Einen Freispruch wegen Schuldunfähigkeit, darauf plädierte die Staatsanwältin. Müsse die Kammer nicht aber auch berücksichtigen, dass der Täter von der begonnenen Tat von sich aus zurückgetreten ist, wie sein Rechtsanwalt ausführte? Damit kein versuchter Mord gegeben sei, nur gefährliche Körperverletzung?
Alle waren sich jedoch darin einig: B. sei unterzubringen in einer psychiatrischen Klinik.
Die Staatsanwaltschaft fordert einen Freispruch
„Der Sachverhalt hat sich so zugetragen, wie in der Anklageschrift beschrieben.“ Uwe B. habe schon längere Zeit einen Hass gegen die in seinen Augen ungerechte Arbeitsweise des Jobcenters gehegt. Und habe die Institution auch für seine persönliche Situation verantwortlich gemacht. So soll er beschlossen haben, eine Vertreterin des Jobcenters zu töten „beziehungsweise zu verurteilen“, wie er es in Ankündigungen per Twitter nannte.
Aus Zufall traf es Daniela E. B. stach am 16. Januar ab 10.54 Uhr auf die Frau ein. Mehrfach. Die anfängliche Arglosigkeit des Opfers habe er dabei ausgenutzt, so die Staatsanwältin. Ein Mordmerkmal, eigentlich wichtig für die Strafzumessung. Dreimal habe er zugestochen, dann sei er zufrieden gewesen, „fast heiter“, habe von seinem Opfer abgelassen. „Er ging davon aus, dass er das Erforderliche getan hatte.“ Dass er sein Opfer getötet habe.
„Markerschütternde Schreie“ – mit diesen Worten schilderte die Staatsanwältin das, was die Kollegen des Opfers von dem Kampf in Raum 722 im Rottweiler Jobcenter mitbekommen haben. Sie stürmen zu dem Zimmer. Und seien auf einen gelassen wirkenden Täter gestoßen. Man rief die Polizei. Und den Rettungsdienst, der auch mit einem Hubschrauber anrückte. Die Verletzungen des Opfers waren zunächst lebensbedrohlich. Der Täter hatte so massiv auf sein Opfer eingestochen, dass zwei Rippen brachen. Dass die Milz verletzt wurde. Um Hilfe wimmernd hatte die Frau am Boden gelegen, als die Kollegen, vier Frauen, ins Zimmer kamen.
Noch immer leide Daniela E. unter der Tat, werde nicht nur durch die Narben daran erinnert.
„Die wesentliche Tat hat der Angeklagte eingeräumt“, so die Staatsanwältin. Das hatte Uwe B. tatsächlich getan, obwohl er eigentlich vor dem von ihm nicht anerkannten Gericht hatte schweigen wollen. Die Stiche geführt zu haben, hatte er schon am ersten Verhandlungstag eigentlich gegen seinen Willen zugegeben.
Die Staatsanwältin wertet die Tat als versuchten Mord. In der Rolle des Rächers habe er sich aufgespielt, über Tod und Leben seines Opfers zu entscheiden.
Entscheidende Frage: War der Angeklagte schuldfähig? Laut einem Sachverständigen sei B. nur „äußerst begrenzt“ dazu in der Lage gewesen, die Tragweite seiner Tat zu ermessen. Es könne nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Mann im Wahn gehandelt hat. Dass er schuldunfähig ist.
„Er kann daher für die Tat strafrechtlich nicht belangt werden und ist freizusprechen“, so die Staatsanwältin. Allerdings könne er wegen seiner anhaltenden wahnhaften Störung dauerhaft in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden. Es sei „höchst wahrscheinlich“, dass Uwe B. ähnliche Straftaten, weiter Gewalttaten begeht. Er zeige keinerlei Unrechtsbewusstsein, wirft seinem Opfer sogar vor, zu übertreiben. Sehe sich selbst als das eigentliche Opfer. „Er ist für die Allgemeinheit gefährlich“ und sei deshalb unterzubringen.
Der Nebenklagevertreter plädiert auf versuchten Mord
Für das Opfer des Messerangriffs – die Daniela E. nahm nicht am letzten Prozesstag teil – bezog der Nebenklage-Vertreter Stellung. „Das Gespräch mit der Jobcenter-Beraterin ist ruhig verlaufen – deshalb war das Opfer arg- und wehrlos.“ Diese Situation habe B. heimtückisch ausgenutzt. „Es waren drei heftige Messerstiche in Bereiche, die lebensgefährlich sind.“ Jeder der einzelnen Stiche sei dazu geeignet gewesen, den Tod des Opfers herbeizuführen, da stützte sich der Nebenklage-Vertreter auch auf eine Sachverständige. Und nachdem sein Opfe zusammengebrochen war, habe B. keinen Versuch unternommen, ihr zu helfen.
Der Nebenklage-Vertreter sah durchaus einen Angeklagten, der sich kontrollieren könne. Dem völlig klar gewesen sei, dass er eine Straftat begeht. Er sei allenfalls in seiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit eingeschränkt gewesen, aber nicht etwa durch einen Wahn getrieben – sozusagen willenlos. Tatsächlich habe er den Verlauf des Gesprächs mit der Jobcenter-Beraterin abgewartet – und da es wieder auf eine neuerliche Überprüfung seiner Arbeitsfähigkeit hinauslief, habe er seinen Plan, jemanden zu töten, in die Tat umgesetzt. Er sei allenfalls vermindert schuldfähig. Aber nicht gänzlich.
Der Antrag der Nebenklage daher: „Der Angeklagte ist hier wegen versuchten Mordes zu verurteilen.“ Mit verminderter Schuldfähigkeit, aber dennoch.
Der Verteidiger sieht eine gefährliche Körperverletzung
„Wir stehen hier am Ende eines ungewöhnlichen Verfahrens mit einem ungewöhnlichen Angeklagten.“ Abgewogene Worte von B.s Verteidiger. Es gelte nun, die Tat als solche zu beleuchten, seine Einlassungen, welcher Tatbestand verwirklicht ist, und wie es mit seiner Schuldfähigkeit aussieht.
Ja, Uwe B. habe „völlig unvermittelt zugestochen“. Aber er habe von seinem Opfer abgelassen, als dieses damit begonnen hatte, sich zu wehren, mit einem hochgerissenen Schreibtischstuhl, wie die Frau es mal in einem Training gelernt hatte. B. habe sich außerdem sofort als Täter zu erkennen zu geben und später widerspruchslos der Polizei gestellt. Er habe früh erklärt, sein Opfer „gestochen, nicht erstochen“ zu haben. Er habe auch die vier Kolleginnen des Opfers, die der Rechtsanwalt für ihr beherztes Einschreiten als mutig bezeichnete, nicht angegriffen.
B. hatte sich laut seinem Anwalt zwar zum Angriff entschlossen, weil von ihm – seiner Ansicht nach schikanöserweise – wieder verlangt werden sollte, sich erneut auf seine Arbeitsfähigkeit begutachten zu lassen. Aber er habe sein Opfer nicht töten wollen. Damit seien zwar die Mordmerkmale der Heimtücke und niedere Beweggründe gegeben, aber der Entschluss zur Tat sei spontan gefallen.
Außerdem sei B. sich sicher gewesen, die Kontrolle über seine Tat zu haben – was eine Sachverständige aber als unmöglich zurückgewiesen hatte, woran auch B.s Rechtsanwalt erinnerte. „B. hatte keinen Tötungsvorsatz – wenn man seinen Angaben folgt.“
B. sei es schon klar gewesen, dass er etwas Verbotenes tut. Seine Steuerungsfähigkeit sei allerdings stark eingeschränkt gewesen, was ihn dazu gebracht hatte, die Tat nicht unterlassen zu können. Auch dies sei vom Gericht zu berücksichtigen.
Dann der juristische Kniff: Auch, wenn man davon ausgeht, dass B. hatte töten wollen, könne es sich in diesem Fall um einen „Rücktritt vom unbeendeten Versuch“ handeln, das Opfer zu töten. Das wäre strafbefreiend. Und die Folge: eine Verurteilung nur wegen gefährlicher Körperverletzung.
Das Urteil
Einen juristischen Kniff wendete auch die Strafkammer an. Strafrechtlich sei nicht auszuschließen, dass Uwe B. vermindert schuldfähig sei – seiner schweren geistigen Erkrankung wegen, einer wahnhaften Störung, die ihn an geheime höhere Mächte glauben ließe, die im Hintergrund die Fäden zögen. Und an seine Freundschaften mit Trump, Putin & Co.
Daher Freispruch, weil die Einsichtsfähigkeit, Böses und gesetzwidriges getan zu haben, erheblich eingeschränkt sein könnte. So, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert. Zivilrechtlich aber sei ihm beizukommen – da er hier nachweisen müsse, tatsächlich nicht schuldfähig zu sein. 50.000 Euro hat B. laut Urteilsspruch nun Schmerzensgeld an sein Opfer zu zahlen. Ein Titel, den die Kammer zudem mit dem Urteilsspruch als vollstreckbar verkündete.
Zugleich ordnete die Kammer die Unterbringung B.s in einer psychiatrischen Klinik an. Diese könne durchaus lebenslang dauern.
Das sorge dafür, dass B. von seinem Freispruch letztlich nichts habe – und entsprechend wurde er in Fuß- und Handfesseln abgeführt. Nicht, ohne vorher auf seine Weise wohl auf Rechtsmittel zu verzichten: „Was gesagt ist, ist gesagt.“
Während der Urteilsbegründung fiel Uwe B. dem Richter immer wieder ins Wort. Dieser ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Auch, als er von B. als „Schwätzer“ bezeichnet wurde, auch, als B. ankündigte, dass sein Opfer „keinen Pfennig“ von ihm sehen werde.
Er sei geisteskrank, stellte der Vorsitzende Richter fest. 1993 habe sich die Krankheit manifestiert, als B. seine Frau und seinen Sohn im Himalaja verlor. Das Verschwinden des Sohnes ist ein bis heute unaufgeklärter Fall. B. setzte damals all seine Mittel ein, um den Verschollenen zu finden. Die Reise nach Tibet sei damals schon eine Flucht gewesen, diese sei furchtbar schiefgegangen. Das manifestierte sich laut Gericht bei B. in einer schweren psychischen, krankhaft seelischen Störung.
An jenem 16. Januar 2020 habe er töten wollen, und zwar einen beliebigen Vertreter des von ihm so gehassten Jobcenters, dessen Mitarbeiter ihn aus seiner Sicht über Gebühr drangsalierten. Die Tat habe er berechnend ausgeführt, habe das Gespräch mit seinem Opfer, der Jobcenter-Beraterin, erst laufen lassen, um dann festzustellen, dass es wieder in eine Richtung lief, die ihm nicht passte. Dann habe er auf sein argloses Opfer eingestochen.
Einen Rücktritt von seinem beendeten Versuch, Daniela E. zu töten – hier geht es um Paragraf 24 Strafgesetzbuch – sah die Kammer entgegen B.s Verteidiger nicht. B. habe zwar von seinem Opfer abgelassen, aber keinen Versuch unternommen, die Tat rückgängig zu machen, also seinem Opfer zu helfen. Vielmehr sei B. nach Auffassung der Kammer davon überzeugt gewesen, E. tödlich verletzt, die Tat also vollendet zu haben.
Lob gab es vonseiten des Vorsitzenden Richters für die Ermittlungsarbeit: „Polizei und Staatsanwaltschaft haben die Tat und das Leben des Angeklagten intensiv beleuchtet.“ Und dem Opfer Uwe B.s sprach der Richter zudem seinen Respekt aus. Sie habe besonnen an der Aufklärung des Falles, aber auch an seiner juristischen Abarbeitung mitgewirkt.