„Unterlassene Hilfeleistung“

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Tamara Retzlaff ist im März an die Öffentlichkeit gegangen. Die ehemalige Rottweiler Innenstadtmanagerin ringt mit schweren gesundheitlichen Problemen – und sieht als Ursache eine Autoimmunreaktion infolge einer Coronaimpfung. Die NRWZ hat sie ausführlich zu Wort kommen lassen, hat auch den Impfstoffhersteller BionTech befragt und das Paul-Ehrlich-Institut. Beide versicherten, Retzlaffs Fall sehr ernst zu nehmen. Unterdessen litt die junge Frau weiter, bis zur Bettlägerigkeit. Inzwischen hat sie sich wieder ins Leben zurückgekämpft. Und tritt öffentlich für ihre Sache ein. Die NRWZ hat sie erneut befragt.

Krank durch eine COVID-19-Impfung? Das kommt vor, findet offenbar aber kaum Gehör. Die Betroffenen von Impfnebenwirkungen machen nun auf sich aufmerksam, fordern unter anderem bundesweite Anlaufstellen, eine Enttabuisierung des Themas, Reha- und Therapieangebote, Kostenübernahme bei Behandlung sowie finanzielle Entschädigungen seitens des Staates.

Eine der Stimmen dieser Betroffenen gehört Tamara Retzlaff. Die 28-Jährige litt nach einer Coronaimpfung monatelang ununterbrochen an Schwindel, Kopfschmerzen, Konzentrations- und Gedächtnisproblemen sowie Wortfindungsstörungen, extremer Müdigkeit, Atemnot, Herzstechen, Muskel- und Gliederschmerzen, Zuckungen, Taubheitsgefühlen, wie sie der NRWZ schilderte. 

Es hat sie den Job gekostet, den Alltag. Ihr Leiden beschrieb sie ausführlich. Inzwischen, wieder zu Kräften gekommen, hat sie sich mit anderen zusammengeschlossen.

Die NRWZ hat sich erneut mit ihr unterhalten.

„Eine schreckliche Zeit“

Frau Retzlaff, im März haben wir zuletzt von Ihnen gehört, Sie haben mit dramatischen Worten beschrieben, wie es Ihnen nach einer Coronaimpfung ergangen ist. Wie geht es Ihnen heute? 

Tamara Retzlaff: Vielen Dank. Nach unserem letzten Gespräch baute ich körperlich enorm ab. Ich wurde täglich schwächer, es kamen starke Muskelschmerzen hinzu. Zuletzt war ich bettlägerig und auf meine Angehörigen angewiesen. Eine schreckliche Zeit. 

Ich hatte jedoch auch sehr großes Glück, in dieser kritischen Phase und im neunten Monat meiner Post-Vac-Erkrankung, einen Termin in Marburg wahrnehmen zu dürfen. Nun bekomme ich schwere Medikamente (die ich vermutlich lebenslang nehmen muss), aber sie helfen und ich bin auf dem Weg der deutlichen Besserung. 

Sie meinen die Post-VAKZIN-Ambulanz des Universitätsklinikums Gießen / Marburg? Was bekommen Sie inzwischen? Wie konnte man Ihnen dort helfen?

TR: Zunächst einmal muss ich mich komplett histaminarm ernähren. Heißt konkret: Alles, was schmeckt, ist verboten. Außerdem muss ich auf Vitamin-C-haltige Nahrungsmittel verzichten.

Zur konkreten Medikation darf ich mich leider nicht äußern. Ich bekomme diese innerhalb einer Studie als Off-Label-Medikamente, also in einer zulassungsüberschreitenden Anwendung. Oder mit anderen Worten: An mir wird geforscht.

Da jedoch zahlreiche Betroffene auf der Warteliste für einen Termin in Marburg stehen (aktuell 3000), sind bereits Fälle aufgetreten, in denen Betroffene in ihrer Verzweiflung die Medikamente im Bekanntenkreis besorgten und einnahmen. Da es sich dabei um schwere Medikamente handelt, sollten diese selbstverständlich nur innerhalb eines kontrollierten Heilversuches, wie er in Marburg stattfindet, eingenommen werden. 

„Kann ohne Rollator laufen. Ein riesiger Schritt.“

Das Medikament, das Sie jetzt bekommen, was bewirkt das konkret?

TR: Aktuell geht man davon aus, dass es eine Zeitspanne gibt, in welcher der fortschreitende Post-Vac-Krankheitsverlauf mit dieser Medikation noch gestoppt werden kann und zu keinen irreversiblen Nervenschäden führt. Es scheint, als habe man mich im letzten Moment dieses Zeitraums erwischt, auch wenn wir bei einigen Beschwerden noch nicht wissen, ob sie je wieder zurückgehen. Im Moment bin ich jedoch sehr dankbar, dass ich wieder aufstehen und seit Kurzem auch wieder ohne Rollator laufen kann. Das ist ein riesiger Schritt für mich!

13 Forderungen an Politik und Staat

Offenbar haben Sie sich mit anderen Betroffenen zusammengetan. So fordern Sie von Politik und Medizin endlich Hilfe sowie Gelder für die Forschung zu Ursachen und Therapien, heißt es. Etwa gegenüber dem Schwäbischen Tagblatt haben Sie das erklärt. Wie lauten Ihre Forderungen konkret? 

TR: Stimmt. Es ist meine erste Erfahrung mit Lobbyarbeit und Interessenvertretung auf Bundesebene. Man muss die Situation sehen: Den Betroffenen läuft die Zeit davon, man lässt den Großteil jedoch noch immer ohne jegliche ärztliche Versorgung in ihren Betten liegen. Wer keinen Termin in Marburg hat, hat Pech gehabt. Und das darf nicht sein.

Wegen der vielen Menschen mit ähnlichen Symptomen, habe ich mich mit fünf Betroffenen zusammengeschlossen, um die Selbsthilfeinitiativen zentral zu organisieren. Wir führen Gespräche mit Politikern, arbeiten mit den Medien zusammen, sprechen mit Unikliniken und Professoren über mögliche medizinische Hilfe und bauen ein bundesweites Selbsthilfe-Netzwerk auf.

Vor allem jedoch betreiben wir Aufklärung. Denn viel zu oft werden wir Betroffene in der Gesellschaft als „Impfgegner“ abgestempelt, was wir nicht sind. Es ist leicht, diese Schublade zu öffnen. Die Wahrheit ist aber: Hätte man uns von Anfang an medizinisch versorgt oder erforscht, so hätten wir dieses Thema niemals so laut auf die Agenda bringen müssen. Es macht uns sicher keinen Spaß, als schwer kranke Personen, diese Arbeit zu übernehmen. Es hat nur leider niemand sonst für uns übernommen. 

Konkret fordern wir:

  1. Eine Enttabuisierung der Kommunikation über schwere Impfnebenwirkungen oder Impfschäden.
  2. Eine wissenschaftliche, medizinische, multizentrische Erforschung des Post-Vac-Syndroms.
  3. Forschungsgelder für Kliniken, die sich an der Forschung und der Therapieentwicklung beteiligen wollen.
  4. Eine Uniklinik in jedem Bundesland, die zu dem Themengebiet forscht und Ansprechpartner für Betroffene ist.
  5. Einen ICD-Schlüssel für das Post-Vac Syndrom (also eine medizinische Klassifikation zur Systematisierung von Diagnosen, Anm. der Red.). 
  6. Eine verpflichtende Schulung für ALLE Ärzte und Angestellten des Gesundheitssystems über das Post-Vac-Syndrom, ebenso eine Verpflichtung zum Lesen und Studieren der EMA-Sicherheitsberichte zu COVID-Impfstoffen.
  7. Das sofortige Melden aller (auch Verdachts-) Impfnebenwirkungen von den Ärzten an das PEI und die Pharmaunternehmen.
  8. Multizentrische Reha- und Therapieangebote für Betroffene.
  9. Psychische Unterstützung für Betroffene.
  10. Eine Anerkennung des Post-Vac-Syndroms als Impfschaden, wenn die Symptome länger als 6 Monate anhalten.
  11. Eine rasche und einfache Kostenübernahme der medizinischen Leistungen bei Behandlungen schwerer Impfnebenwirkungen.
  12. Eine klare Zuständigkeitszuordnung beziehungsweise Verantwortlichkeit einzelner Behörden und Institute.
  13. Eine finanzielle Entschädigung seitens des Staates.

Anerkennung seitens Karl Lauterbach

Haben Sie mit diesem Zusammenschluss der Betroffenen aus Ihrer Sicht bereits etwas erreichen können?

TR: Definitiv. Wenn Sie an unser letztes Interview zurückdenken, so waren wir seinerzeit mit die Einzigen, die über dieses Problem überhaupt berichtet haben. Inzwischen regnet es Berichterstattungen, wir hatten Berichte in der ARD, in der FAZ, in der Berliner Zeitung etc. Nicht, weil wir unbedingt unsere Geschichte mit der Öffentlichkeit teilen wollten – sondern weil wir hierdurch den Druck auf die Verantwortlichen erhöhen konnten. 

Als wir das letzte Mal sprachen, fragten wir uns noch, weshalb das Paul-Ehrlich-Institut auf keine meiner Meldungen reagierte. Langsam scheint auch in dieser Behörde der Stein ins Rollen zu kommen, die ersten Betroffenen berichten von Rückmeldungen durch das PEI, so auch bei mir.

Auf unseren Social Media Kanälen sind wir zu Anlaufstellen geworden und haben ganze Wissens-Bibliotheken angelegt, sowie diverse medial wirksame Aktionen gestartet.

Wir erleben Ärzte, die sich dem Post-Vac-Syndrom zunächst verschlossen hatten und nun bei uns Hilfe suchen, wie sie mit entsprechenden Patienten umgehen sollen. Ein gutes Zeichen, denn sie scheinen diese Fälle jetzt ernst zu nehmen.

Und zu guter Letzt hat auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach nun, nach einem Jahr, anerkannt, dass es uns gibt. Es war ein weiter Weg bis hierhin und sein Videostatement ist nicht gerade glücklich verlaufen. Auch sein Twitter Beitrag vom 14.08.2021, in dem er die Impfung als „nebenwirkungsfrei“ bezeichnet, ist noch immer online. Aber wir bleiben auch hier weiter dran und suchen das Gespräch.



Insgesamt muss man jedoch festhalten: Das reicht bei Weitem noch nicht! Noch immer ist die Uniklinik Marburg die einzige realistische Anlaufstelle für uns Betroffene. Prof. Dr. Bernhard Schieffer, der Marburger Klinikdirektor, startete zunächst allein, holte dann zwei Ärztinnen hinzu und wird das Team nun weiter aufstocken. Diese kleine Ambulanz kann jedoch niemals all den Betroffenen medizinisch gerecht werden und benötigt Unterstützung – insbesondere im Bereich Neurologie.

„Man bot mir Geld. Und man hat mir den Tod gewünscht“

Haben Sie auch Unterstützung, Hilfe und Zuspruch aus Ihrem Umfeld und aus der Region erlebt?

TR: Es war interessant zu sehen, was da auf mich einprasselte – auch aus Rottweil. Während mir Menschen Spendengelder anboten (was ich niemals annehmen würde), warfen andere mir vor, ich sei eine „Gefahr für die Gesellschaft“, weil ich mich gegen Impfungen ausspräche (was ich nicht mache).
Während die einen nicht müde wurden, mir immer neue medizinische Hinweise und Forschungsansätze zu senden, schickten andere mir Nachrichten, in denen sie mir den Tod wünschten.

Ich bin eines Tages dazu übergegangen, die negativen Dinge zu löschen und mich über die Hilfsbereitschaft der Menschen zu freuen. Es ist wirklich bemerkenswert, wie viele hilfsbereite Menschen es gibt. Insgesamt bin ich jedoch in der Flut der Nachrichten so untergegangen, dass ich es nicht mehr schaffe, auf jede Nachricht einzugehen. Daher an dieser Stelle ein Dankeschön an all die vielen Hilfsangebote!

Mein persönliches Umfeld sprang insofern ein, als dass sie meine Social-Media-Kanäle und auch mein E-Mail-Postfach betreuen. Denn bei all dem Kampf für die Anerkennung unserer Erkrankung und für eine Behandlung darf man nicht vergessen, dass ich noch immer erkrankt bin. Ich kann diese Arbeit, die notwendig ist, nicht allein leisten.

Und selbstverständlich erhielt ich die größte Unterstützung von meinem Partner, der für mich kochte, mich fütterte und zur Toilette trug, als meine Muskeln versagten.

Wie sieht, aus heutiger Sicht, Ihre Zukunft aus? Ihre nähere, aber auch Ihre entferntere?

TR: Ich werde in den nächsten Tagen einen Reha-Antrag stellen, in der Hoffnung, dass dieser bewilligt wird und ich diese körperlich durchstehe. Entfernter hoffe ich, wieder halbwegs gesund zu werden. Ich habe akzeptiert, dass ich gegebenenfalls lebenslang Medikamente nehmen muss, die beispielsweise mit einer Schwangerschaft kontraindiziert sind. Auch kann ich damit umgehen, dass ich unter Umständen bleibende Schäden haben werde. Meinen Job habe ich verloren und ob ich einen ähnlichen nochmals ausüben kann, ist derzeit völlig unklar. Es wird ein neues „Normal“ für mich geben, das nichts mit meinem alten Leben, wie ich es kannte, zu tun hat. Dies bedeutet aber nicht, dass das neue „Normal“ weniger gut ist.

Womit ich jedoch nicht umgehen kann, ist mein verlorenes Vertrauen in die deutsche Gesundheitsversorgung und Politik. Ich bin Professor Schieffer aus tiefstem Herzen dankbar, werde sicher irgendwann mit ihm, bei einem histaminfreien Wasser, lachend über diese verrückte Zeit sprechen.

Bei seinen Kollegen jedoch habe ich sehr viel Diskriminierung, unterlassene Hilfeleistung und Ignoranz erlebt. Es wird vermutlich sehr lange dauern, bis ich diese Erlebnisse für mich überwinden kann. Ich hoffe, dass mir das irgendwann gelingt.

Vielen Dank für dieses Gespräch.

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Peter Arnegger (gg)
Peter Arnegger (gg)https://www.nrwz.de
... ist seit gut 25 Jahren Journalist. Mehr über ihn hier.

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