Spielzeit-Start am Zimmertheater: „Alte Sorten“, neue Sorgen

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Eine Woche noch, dann startet das Rottweiler Zimmertheater in die neue Spielzeit. Im Gespräch mit der NRWZ berichtet das Intendanten-Duo Dr. Peter Staatsmann und Dr. Bettina Schültke von spannenden Projekten – aber auch wegbrechenden Finanzierungssäulen.

NRWZ: Frau Schültke, Herr Staatsmann, die neue Spielzeit steht vor der Tür – gibt es ein Motto, eine verbindende Idee für die Angebote des Zimmertheaters bis nächsten Sommer?

Peter Staatsmann: Das Verbindende aller Inszenierungen und Projekte dieser Spielzeit ist, dass die Figuren der Stücke oft verletzte, sich als Außenseiter fühlende Menschen sind, die nicht gelernt haben, ihre eignen Bedürfnisse und Beweggründe zu erkennen. In einer Zeit großer Unsicherheiten – ähnlich der Wirtschaftskrise in den 1920er Jahren unter ganz anderen Vorzeichen – halten sich viele Menschen an konventionelle Muster und Stereotypen und erforschen nicht ihr eigenes Wünschen und Wollen.

Oft auch in Milieus größter Liberalität herrscht die Konvention in Gestalt eines „gesunden Realitätssinnes“ – unbemerkt bleibt auch in Schulen und bei der Erziehung, dass sich solch eine Norm gegen Freiheit und Offenheit und Möglichkeiten richtet. Dies zu überwinden und zu zeigen, dass sich der Kampf um die eigene Autonomie immer lohnt, ist das Thema aller Stücke. In ein Motto übersetzt, könnte es heißen, trotz aller Schwierigkeiten: Verliert euer Eigenes nicht und gebt nicht auf!“.

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„Baby, du hast den Fallschirm vergessen, sagte Gaia, als ich durch die Lücke zwischen Sprache und Welt fiel“, lautete der verspielte Titel der Zimmertheater-Produktion vom April 2024. Archivfoto: al

NRWZ: Sie starten am 26. Oktober mit „Alte Sorten“, ausgehend von einem gleichnamigen Roman von Ewald Arenz – was hat Sie an diesem Stück gereizt?

Bettina Schültke: Uns interessiert, wie Ewald Arenz in seinem Roman zwei Frauen darstellt, die nicht gelernt haben, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen, weil sie nicht gelernt haben, sich selbst zu spüren. Die Lebendigkeit ihrer Bedürfnisse erleben sie als bedrohlich und bei ihrer Suche und ihrem Experimentieren mit sich selbst werden sie von der Umwelt vehement abgelehnt.

Das wandelt sich bei der jungen Frau, die von den Konventionen her pathologisiert wird, in Widerstand, bei der älteren Frau phasenweise in Apathie und Depression um. Wer sich auf diese Weise dem Willen der anderen fügt, dem verbleibt nur noch die Möglichkeit, seine Wut gegen alles zu richten, was den Drang zur eigenen Autonomie und Lebendigkeit auch nur wecken könnte. Dies zu überwinden und zu zeigen, dass sich der Kampf um die eigene Autonomie immer lohnt, wollen wir mit der Inszenierung zeigen.

Der Roman ist natürlich auch zum Bestseller geworden, weil er viele Themen behandelt, die aktuell die Menschen betreffen, wie Verwurzelung, Heimat, Familien- und Eltern-Kinder-Beziehungen, alte Traumata und neue Herausforderungen, Freundschaft, Rebellion und Heilung.

NRWZ: Sie sprechen es an: Es geht um Generationen-Gespräche, ein bisschen aber auch ums Landleben, das ja seit einiger Zeit wieder neu entdeckt wird – ist das ein Aspekt, der Augenmerk verdient?

Bettina Schültke: In dem Theaterstück wird außer der großen Frage: Ist es möglich, alte Verletzungen zu heilen und neue Perspektiven zu gewinnen auch geschickt das Verhältnis der beiden Frauen auf der Folie von Transformationsprozessen im ländlichen Raum gezeigt. Wie hart ist die Arbeit, was wird leicht romantisiert, wo liegen die Herausforderungen und die Schönheit des Landlebens? Hier kennt sich ein Großteil unseres Publikums aus.

NRWZ: Als Weihnachts- und Kinderstück zeigen Sie ab 1. Dezember „Die Bremer Stadtmusikanten“ – worauf können sich die jungen Theaterbesucher da freuen?

Peter Staatsmann: Das Besondere unserer Inszenierung wird sein, dass außer fünf Schauspielerinnen und Schauspielern sowie dem Livemusiker Dorin Grama auch zwei ausgebildete Clowns mit dabei sind. Das heißt, die Tiere, die sich zu den Stadtmusikanten zusammentun, werden nicht nur eine Band gründen, sondern einen Zirkus mit Clownsnummern. Mit ihrem Zusammenhalt und ihrem Mut gelingt ihnen das fast Unmögliche aus ihrer Außenseiterrolle heraus, sich ein neues besseres Leben zu schaffen.

NRWZ: Für das Frühjahr haben Sie ein Stück zum Nahostkonflikt in Planung – warum greifen Sie dieses vielfach verminte Thema auf?

Bettina Schültke: Ausgangspunkt dieses Projekts war für uns ein Erlebnis im Zimmertheater. Unser aus Israel stammender Mitarbeiter Ronny Bar-Gil sollte bei der über 90jährigen Frau Piecha Kleidung abholen, die sie dem Theaterfundus überlassen wollte. Sie kamen ins Gespräch und Frau Piecha erzählte, dass sie ihr Leben lang versucht hat, den jüdischen Nachbarsjungen, der 1938 verschwand und von dem sie nie wieder etwas gehört hat, ausfindig zu machen.

Ronny gelang es über Kontakt in Israel, Nachfahren zu finden und die Familie kam letztes Jahr zu Besuch nach Rottweil. Dass am 7. Oktober 2023 ein solch schrecklicher Terrorakt dort passieren würde, konnten wir zum Zeitpunkt der Antragsstellung nicht voraussehen. Das Theater bietet die Chance, auf eine andere Weise als in hochgeheizten Diskussionen sich mit dem Thema, das Deutschland aufgrund seiner Geschichte stark betrifft, auseinanderzusetzen.

NRWZ: Wie wollen Sie diesen extrem komplizierten Konflikt auf der Bühne verhandeln?

Peter Staatsmann: Die historische Gesamtlage können wir natürlich nicht vergegenwärtigen, dazu gibt es eine riesige und unendlich komplexe Literatur und Diskussion. Was wir aber zeigen können und müssen, sind die Grenzen unseres Verstehens und auch unsere Neigung zu Illusionen über uns selbst – als Einzelne und im Größeren als Gattung. Nicht die ganz und gar Fremden werden zu Feinden, sondern die engen Verwandten und Nachbarn und Freunde.

Streits und Kriege, die nun mal nicht einfach per moralischer Haltung abzuschaffen sind, entstehen eben unter diesen Parteien, die verwandt und vielleicht sogar seelisch verwandt sind. Darauf hat uns unser großer und kluger Menschenerforscher Sigismund Schlomo Freud schon Anfang des 20. Jahrhunderts aufmerksam gemacht und leider hat sich diese Einsicht dann sehr oft als eine der bitteren und tragisch blutigen Wahrheiten über den Menschen herausgestellt – nicht zuletzt kann man ja auch Hitlers Wahn als Eifersuchtsdrama um den Status des auserwählten Volkes sehen.

Wir wollen versuchen, ob wir nahe Menschenbeziehungen und Beziehungen unter Völkern und Nationen aus dieser Perspektive erzählen können, im Sinne von: Weil ich dich liebe, hasse ich dich und weil ich dich liebe, will/muss ich dich töten. Der Mensch ist nun mal nicht ohne seine Triebe und sein Unbewusstes zu verstehen und diese beiden Dimensionen sind eben per se nicht zu „verstehen“.

NRWZ: Auch im Kontext vom „AllerLand“ haben Sie für 2025 etwas in Planung – worum geht es da?

Bettina Schültke: Der Landkreis Rottweil hatte letztes Jahr den Zuschlag für die Erprobungsphase des Förderprogramms „AllerLand“ erhalten und wir machen ein Pilotprojekt dazu und hoffen, dass es dazu beiträgt, in die Umsetzungsphase aufgenommen zu werden, die sehr viel Geld für Projekte im Landkreis bedeuten würde.

Perspektivisch wollen wir Lebensgeschichten sammeln von Menschen der Stadt wie der Region, die sich wie ein großes Puzzle zu mehreren Theaterabenden zusammensetzen lassen. Unterschiedliche Menschen und ihre Biographien treffen aufeinander, werden von Schauspielerinnen und Schauspielern verkörpert, aber die realen Menschen werden dann auch anwesend sein.

NRWZ: Als Sommerstück wollen Sie voraussichtlich „Stolz und Vorurteil“ nach dem Roman von Jane Austen zeigen – wird das fluffiges Freiluft-Theater im Bockshof?

Peter Staatsmann: Wir haben noch nicht endgültig entschieden, ob es „Tartuffe“ von Molière oder eine Theateradaption nach „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen werden wird. Für Molière spricht, dass sein Theaterstück über den berühmtesten Scheinheiligen der Weltliteratur nach wie vor ein brisantes hochaktuelles Thema in Form einer Komödie behandelt.  Was wie eine harmlose Familienstreiterei anfängt, über die man lachen oder weinen kann, entpuppt sich bei Tartuffe bald als eine Röntgenaufnahme einer Gesellschaft der Verunsicherung.

Der Familienvater Orgon, die eigentliche Hauptrolle, die Molière selbst spielte, vertraut nicht mehr auf sich und seine bürgerliche Ordnung und Identität und so wird er Opfer von gnadenloser Habgier und äußerst geschickter psychologische Manipulation. Molière führt uns eindringlich vor Augen: Ideologen, die von sich behaupten, nur das Beste für alle zu wollen, sind oft genug Tyrannen. Ganz großes Theater!

Jane Austen beschreibt etwas mehr als ein Jahr im Leben junger, wohlhabender Leute auf dem Land. Im Mittelpunkt steht die Familie Bennet mit ihren fünf Töchtern im heiratsfähigen Alter, die bei der Wahl ihrer Ehepartner jede für sich eine Balance zwischen Liebe, ökonomischer Sicherheit und Standeszugehörigkeit suchen, was durch Missverständnisse und Intrigen, eben durch „Stolz und Vorurteil“ geprägt ist. Den Erfolg macht die Kombination aus von traditioneller Romanze mit einer unkonventionellen Heldin, die sich mit der heutigen Identität einer aktiven und unabhängigen Weiblichkeit verbinden lässt.

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Kam gut an: Das neue Format „Nachtcafé“. Archivfoto: al

NRWZ: Wie geht es weiter mit den Gesprächs- und Vorlese-Formaten, die Sie in der vergangenen Spielzeit ausprobiert haben?

Peter Staatsmann: Wir stellen ein Stück der neuen Stadtschreiberin vor, die Einführungen von Peter Staatsmann werden weitergehen und wir haben zum Beispiel eine Kooperation mit dem Milton Erikson Institut anlässlich ihrer zehnten Kindertagung. Das Kulturprogramm findet vom 29. Oktober bis zum 1. November täglich im Zimmertheater statt mit zwei Konzerten von den Mehl Brüdern und Thomas Bauser und dem Gismo Graf Trio und zwei musikalischen Kabarettabenden mit Melanie Graf „La Pharmiglia. Organisiertes Gebrechen“ und „Hauptsache Theater – Politisch motivierter Swing“.

Das Nachtcafé soll weitergehen, allerdings wissen wir im Moment noch nicht, wie wir die Kosten aufgrund der hohen GEMA-Gebühren auffangen können.

NRWZ: Worauf sind Sie in der nächsten Spielzeit persönlich am meisten gespannt?

Bettina Schültke: Außer natürlich, wie unsere Produktionen beim Publikum aufgenommen werden, stellt sich die große Frage, wie wird es mit der Kunst und Kultur und ihrer Finanzierung weitergehen. Wir sind sehr enttäuscht, dass wir an der Lottomittel-Ausschüttung für Privattheater in Baden-Württemberg als eins von zwei Theatern nicht partizipieren, da dort bei allen anderen Theatern der zwei-zu-eins Schlüssel durch das Land aufgestockt wird.

Das heißt, bei 47 Privattheatern zahlen die Städte teilweise erheblich mehr, so dass das Land ausgleicht. Die letzten Jahre warben wir extrem viele Projektmittel ein, die die einzelnen Produktionen des Theaters finanziert haben, jetzt stehen wir vor der Situation, dass viele Fördertöpfe extrem gekürzt (Privattheaterfond) beziehungsweise umdefiniert worden sind (Innovationsfond), oder nur noch soziokulturelle Projekte bedenken, und da können wir als Theater uns leider noch nicht bewerben, obwohl viele unserer Projekte auch in diesen Bereich fallen.

Die Fragen stellte NRWZ-Redakteur Andreas Linsenmann.

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Eine Woche noch, dann startet das Rottweiler Zimmertheater in die neue Spielzeit. Im Gespräch mit der NRWZ berichtet das Intendanten-Duo Dr. Peter Staatsmann und Dr. Bettina Schültke von spannenden Projekten – aber auch wegbrechenden Finanzierungssäulen.

NRWZ: Frau Schültke, Herr Staatsmann, die neue Spielzeit steht vor der Tür – gibt es ein Motto, eine verbindende Idee für die Angebote des Zimmertheaters bis nächsten Sommer?

Peter Staatsmann: Das Verbindende aller Inszenierungen und Projekte dieser Spielzeit ist, dass die Figuren der Stücke oft verletzte, sich als Außenseiter fühlende Menschen sind, die nicht gelernt haben, ihre eignen Bedürfnisse und Beweggründe zu erkennen. In einer Zeit großer Unsicherheiten – ähnlich der Wirtschaftskrise in den 1920er Jahren unter ganz anderen Vorzeichen – halten sich viele Menschen an konventionelle Muster und Stereotypen und erforschen nicht ihr eigenes Wünschen und Wollen.

Oft auch in Milieus größter Liberalität herrscht die Konvention in Gestalt eines „gesunden Realitätssinnes“ – unbemerkt bleibt auch in Schulen und bei der Erziehung, dass sich solch eine Norm gegen Freiheit und Offenheit und Möglichkeiten richtet. Dies zu überwinden und zu zeigen, dass sich der Kampf um die eigene Autonomie immer lohnt, ist das Thema aller Stücke. In ein Motto übersetzt, könnte es heißen, trotz aller Schwierigkeiten: Verliert euer Eigenes nicht und gebt nicht auf!“.

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„Baby, du hast den Fallschirm vergessen, sagte Gaia, als ich durch die Lücke zwischen Sprache und Welt fiel“, lautete der verspielte Titel der Zimmertheater-Produktion vom April 2024. Archivfoto: al

NRWZ: Sie starten am 26. Oktober mit „Alte Sorten“, ausgehend von einem gleichnamigen Roman von Ewald Arenz – was hat Sie an diesem Stück gereizt?

Bettina Schültke: Uns interessiert, wie Ewald Arenz in seinem Roman zwei Frauen darstellt, die nicht gelernt haben, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen, weil sie nicht gelernt haben, sich selbst zu spüren. Die Lebendigkeit ihrer Bedürfnisse erleben sie als bedrohlich und bei ihrer Suche und ihrem Experimentieren mit sich selbst werden sie von der Umwelt vehement abgelehnt.

Das wandelt sich bei der jungen Frau, die von den Konventionen her pathologisiert wird, in Widerstand, bei der älteren Frau phasenweise in Apathie und Depression um. Wer sich auf diese Weise dem Willen der anderen fügt, dem verbleibt nur noch die Möglichkeit, seine Wut gegen alles zu richten, was den Drang zur eigenen Autonomie und Lebendigkeit auch nur wecken könnte. Dies zu überwinden und zu zeigen, dass sich der Kampf um die eigene Autonomie immer lohnt, wollen wir mit der Inszenierung zeigen.

Der Roman ist natürlich auch zum Bestseller geworden, weil er viele Themen behandelt, die aktuell die Menschen betreffen, wie Verwurzelung, Heimat, Familien- und Eltern-Kinder-Beziehungen, alte Traumata und neue Herausforderungen, Freundschaft, Rebellion und Heilung.

NRWZ: Sie sprechen es an: Es geht um Generationen-Gespräche, ein bisschen aber auch ums Landleben, das ja seit einiger Zeit wieder neu entdeckt wird – ist das ein Aspekt, der Augenmerk verdient?

Bettina Schültke: In dem Theaterstück wird außer der großen Frage: Ist es möglich, alte Verletzungen zu heilen und neue Perspektiven zu gewinnen auch geschickt das Verhältnis der beiden Frauen auf der Folie von Transformationsprozessen im ländlichen Raum gezeigt. Wie hart ist die Arbeit, was wird leicht romantisiert, wo liegen die Herausforderungen und die Schönheit des Landlebens? Hier kennt sich ein Großteil unseres Publikums aus.

NRWZ: Als Weihnachts- und Kinderstück zeigen Sie ab 1. Dezember „Die Bremer Stadtmusikanten“ – worauf können sich die jungen Theaterbesucher da freuen?

Peter Staatsmann: Das Besondere unserer Inszenierung wird sein, dass außer fünf Schauspielerinnen und Schauspielern sowie dem Livemusiker Dorin Grama auch zwei ausgebildete Clowns mit dabei sind. Das heißt, die Tiere, die sich zu den Stadtmusikanten zusammentun, werden nicht nur eine Band gründen, sondern einen Zirkus mit Clownsnummern. Mit ihrem Zusammenhalt und ihrem Mut gelingt ihnen das fast Unmögliche aus ihrer Außenseiterrolle heraus, sich ein neues besseres Leben zu schaffen.

NRWZ: Für das Frühjahr haben Sie ein Stück zum Nahostkonflikt in Planung – warum greifen Sie dieses vielfach verminte Thema auf?

Bettina Schültke: Ausgangspunkt dieses Projekts war für uns ein Erlebnis im Zimmertheater. Unser aus Israel stammender Mitarbeiter Ronny Bar-Gil sollte bei der über 90jährigen Frau Piecha Kleidung abholen, die sie dem Theaterfundus überlassen wollte. Sie kamen ins Gespräch und Frau Piecha erzählte, dass sie ihr Leben lang versucht hat, den jüdischen Nachbarsjungen, der 1938 verschwand und von dem sie nie wieder etwas gehört hat, ausfindig zu machen.

Ronny gelang es über Kontakt in Israel, Nachfahren zu finden und die Familie kam letztes Jahr zu Besuch nach Rottweil. Dass am 7. Oktober 2023 ein solch schrecklicher Terrorakt dort passieren würde, konnten wir zum Zeitpunkt der Antragsstellung nicht voraussehen. Das Theater bietet die Chance, auf eine andere Weise als in hochgeheizten Diskussionen sich mit dem Thema, das Deutschland aufgrund seiner Geschichte stark betrifft, auseinanderzusetzen.

NRWZ: Wie wollen Sie diesen extrem komplizierten Konflikt auf der Bühne verhandeln?

Peter Staatsmann: Die historische Gesamtlage können wir natürlich nicht vergegenwärtigen, dazu gibt es eine riesige und unendlich komplexe Literatur und Diskussion. Was wir aber zeigen können und müssen, sind die Grenzen unseres Verstehens und auch unsere Neigung zu Illusionen über uns selbst – als Einzelne und im Größeren als Gattung. Nicht die ganz und gar Fremden werden zu Feinden, sondern die engen Verwandten und Nachbarn und Freunde.

Streits und Kriege, die nun mal nicht einfach per moralischer Haltung abzuschaffen sind, entstehen eben unter diesen Parteien, die verwandt und vielleicht sogar seelisch verwandt sind. Darauf hat uns unser großer und kluger Menschenerforscher Sigismund Schlomo Freud schon Anfang des 20. Jahrhunderts aufmerksam gemacht und leider hat sich diese Einsicht dann sehr oft als eine der bitteren und tragisch blutigen Wahrheiten über den Menschen herausgestellt – nicht zuletzt kann man ja auch Hitlers Wahn als Eifersuchtsdrama um den Status des auserwählten Volkes sehen.

Wir wollen versuchen, ob wir nahe Menschenbeziehungen und Beziehungen unter Völkern und Nationen aus dieser Perspektive erzählen können, im Sinne von: Weil ich dich liebe, hasse ich dich und weil ich dich liebe, will/muss ich dich töten. Der Mensch ist nun mal nicht ohne seine Triebe und sein Unbewusstes zu verstehen und diese beiden Dimensionen sind eben per se nicht zu „verstehen“.

NRWZ: Auch im Kontext vom „AllerLand“ haben Sie für 2025 etwas in Planung – worum geht es da?

Bettina Schültke: Der Landkreis Rottweil hatte letztes Jahr den Zuschlag für die Erprobungsphase des Förderprogramms „AllerLand“ erhalten und wir machen ein Pilotprojekt dazu und hoffen, dass es dazu beiträgt, in die Umsetzungsphase aufgenommen zu werden, die sehr viel Geld für Projekte im Landkreis bedeuten würde.

Perspektivisch wollen wir Lebensgeschichten sammeln von Menschen der Stadt wie der Region, die sich wie ein großes Puzzle zu mehreren Theaterabenden zusammensetzen lassen. Unterschiedliche Menschen und ihre Biographien treffen aufeinander, werden von Schauspielerinnen und Schauspielern verkörpert, aber die realen Menschen werden dann auch anwesend sein.

NRWZ: Als Sommerstück wollen Sie voraussichtlich „Stolz und Vorurteil“ nach dem Roman von Jane Austen zeigen – wird das fluffiges Freiluft-Theater im Bockshof?

Peter Staatsmann: Wir haben noch nicht endgültig entschieden, ob es „Tartuffe“ von Molière oder eine Theateradaption nach „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen werden wird. Für Molière spricht, dass sein Theaterstück über den berühmtesten Scheinheiligen der Weltliteratur nach wie vor ein brisantes hochaktuelles Thema in Form einer Komödie behandelt.  Was wie eine harmlose Familienstreiterei anfängt, über die man lachen oder weinen kann, entpuppt sich bei Tartuffe bald als eine Röntgenaufnahme einer Gesellschaft der Verunsicherung.

Der Familienvater Orgon, die eigentliche Hauptrolle, die Molière selbst spielte, vertraut nicht mehr auf sich und seine bürgerliche Ordnung und Identität und so wird er Opfer von gnadenloser Habgier und äußerst geschickter psychologische Manipulation. Molière führt uns eindringlich vor Augen: Ideologen, die von sich behaupten, nur das Beste für alle zu wollen, sind oft genug Tyrannen. Ganz großes Theater!

Jane Austen beschreibt etwas mehr als ein Jahr im Leben junger, wohlhabender Leute auf dem Land. Im Mittelpunkt steht die Familie Bennet mit ihren fünf Töchtern im heiratsfähigen Alter, die bei der Wahl ihrer Ehepartner jede für sich eine Balance zwischen Liebe, ökonomischer Sicherheit und Standeszugehörigkeit suchen, was durch Missverständnisse und Intrigen, eben durch „Stolz und Vorurteil“ geprägt ist. Den Erfolg macht die Kombination aus von traditioneller Romanze mit einer unkonventionellen Heldin, die sich mit der heutigen Identität einer aktiven und unabhängigen Weiblichkeit verbinden lässt.

dsc 2507
Kam gut an: Das neue Format „Nachtcafé“. Archivfoto: al

NRWZ: Wie geht es weiter mit den Gesprächs- und Vorlese-Formaten, die Sie in der vergangenen Spielzeit ausprobiert haben?

Peter Staatsmann: Wir stellen ein Stück der neuen Stadtschreiberin vor, die Einführungen von Peter Staatsmann werden weitergehen und wir haben zum Beispiel eine Kooperation mit dem Milton Erikson Institut anlässlich ihrer zehnten Kindertagung. Das Kulturprogramm findet vom 29. Oktober bis zum 1. November täglich im Zimmertheater statt mit zwei Konzerten von den Mehl Brüdern und Thomas Bauser und dem Gismo Graf Trio und zwei musikalischen Kabarettabenden mit Melanie Graf „La Pharmiglia. Organisiertes Gebrechen“ und „Hauptsache Theater – Politisch motivierter Swing“.

Das Nachtcafé soll weitergehen, allerdings wissen wir im Moment noch nicht, wie wir die Kosten aufgrund der hohen GEMA-Gebühren auffangen können.

NRWZ: Worauf sind Sie in der nächsten Spielzeit persönlich am meisten gespannt?

Bettina Schültke: Außer natürlich, wie unsere Produktionen beim Publikum aufgenommen werden, stellt sich die große Frage, wie wird es mit der Kunst und Kultur und ihrer Finanzierung weitergehen. Wir sind sehr enttäuscht, dass wir an der Lottomittel-Ausschüttung für Privattheater in Baden-Württemberg als eins von zwei Theatern nicht partizipieren, da dort bei allen anderen Theatern der zwei-zu-eins Schlüssel durch das Land aufgestockt wird.

Das heißt, bei 47 Privattheatern zahlen die Städte teilweise erheblich mehr, so dass das Land ausgleicht. Die letzten Jahre warben wir extrem viele Projektmittel ein, die die einzelnen Produktionen des Theaters finanziert haben, jetzt stehen wir vor der Situation, dass viele Fördertöpfe extrem gekürzt (Privattheaterfond) beziehungsweise umdefiniert worden sind (Innovationsfond), oder nur noch soziokulturelle Projekte bedenken, und da können wir als Theater uns leider noch nicht bewerben, obwohl viele unserer Projekte auch in diesen Bereich fallen.

Die Fragen stellte NRWZ-Redakteur Andreas Linsenmann.

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