Der 26-Jährige leugnet die Tat nicht. Dass er im Januar um die Mittagszeit den Chef der Rottweiler Pizzeria „Rotuvilla“ mit einem Messer angegriffen hat, steht eigentlich fest. Vorausgegangen waren Stretiereien und wohl auch Hänseleien. Das ergab die Vernehmung des Angeklagten im Rotuvilla-Prozess am Freitagmorgen vor dem Rottweiler Landgericht. Die Auftaktverhandlung zeigte aber auch Grenzen deutscher Gerichtsbarkeit auf.
UPDATE: Viereinhalb Jahre Haft
Weil er gekränkt und im Wahn, zudem heimtückisch auf seinen Chef eingestochen hat, muss der 26-Jährige für viereinhalb Jahre ins Gefängnis. Die Tat hatte sich in der Rottweiler Pizzeria „Rottuvilla” abgespielt. Beim Täter ist eine wahnhafte Störung mit möglicher Schizophrenie diagnostiziert worden, als „psychisch krank” bezeichnete ihn der Vorsitzende Richter am Landgericht. Er habe sich vom Chef des Restaurants bedroht gefühlt. Und er habe ihn ermorden wollen, so das Gericht, sei fest zur Tötung entschlossen” gewesen.
„Test – Test“. Zwischenzeitlich wirkt es absurd. Es ist Freitagmorgen im Schwurgerichtssaal des Rottweiler Landgerichts, der Staatsanwalt muss wiederholt von Neuem mit dem Verlesen der Anklage beginnen. Die beiden für den Angeklagten und die Zeugen bestellten Dolmetscher probieren Funkmikrofon um Funkmikrofon, mittels derer sie sich mit dem Angeklagten verständigen, ihm Anklage und Verhandlungsverlauf übersetzen sollen. Ins Italienische, der 26-Jährige ist gebürtiger Italiener. „Wir haben diese Anlage seit vielen Jahren, und es gab noch nie Probleme“, merkt der Vorsitzende Richter, Karl-Heinz Münzer, zu dem Funksystem an. Er ist genervt.
Der Angeklagte, Allessandro P., hat dagegen die Ruhe weg. Bockig wirkt er, desinteressiert – bis klar wird: Er hört fast nichts. Er liest von den Lippen seiner Gesprächspartner ab. Dafür gibt es eigentlich die zu den Funkmikros passenden Kopfhörer, aber die scheinen für ihn nicht laut genug zu sein. Tatsächlich und im übertragenen Sinne: Zu dem Mann dringt so gut wie nichts durch.
Das ist die Schlüsselinformation. Das wird wohl erklären – wenn auch nicht entschuldigen, vor allem nicht vor dem Gesetz, vor dem Opfer und dessen Familie -, warum Alessandro P. am 22. Januar ein Messer genommen und begonnen hat, auf seinen Chef einzustechen. Er verletzte diesen damals schwer, nicht aber lebensgefährlich. Noch heute leidet der Pizzeria-Inhaber unter dem Angriff. Während der Staatsanwalt, wie in einer Anklage üblich, den angenommenen Tatablauf detailliert schildert, fließen bei dem gestandenen Mann die Tränen. Er darf dem Prozess beiwohnen. Nur während der Angeklagte vernommen wird, muss er draußen warten.
Die Schlüsselinformation: Alessandro P. ist äußerst schwerhörig. Schwersthörig, müsste man ihn nennen. Dazu kommen große Verständigungsprobleme in Deutsch, für ihn eine Fremdsprache (was miteinander zusammen hängt). Damals, im Januar, war es für ihn wieder einmal so weit, wie so oft schon zuvor. Er sollte einen Job verlieren, den er gerade erst, wenige Wochen zuvor, bekommen hatte, das stand eigentlich schon fest. Denn der Chef – laut Allessandro P. ein Koch, der statt zu diskutieren, auch mal mit dem Küchengerät randaliert – lag mit der Aushilfe längst im Clinch. Er habe sich nur noch bis zum Monatsende, dem nächsten Lohn retten wollen, so Alessandro P. vor Gericht.
In so einer Küche in einem gut besuchten Restaurant geht es um die Mittagszeit ruppig zu. Alle rackern, nach eigener Darstellung auch Alessandro P. Die Zubereitung der Speisen läuft auf Zuruf, die Verständigung mit Gesten und knappen Sätzen. Gut möglich, dass sich Alessandro P. – wieder einmal – nicht ins Team hatte einfinden können. Und dass seine Fehler vom Chef – im Stress – auch mit einem stärkeren Klaps auf den Hinterkopf beantwortet wurden, oder mit einer hingeschleuderten Waage, beispielsweise, wenn er zu viel vom guten Fleisch abgeschnitten hatte.
Dass nun Alessandro P. zudem auch ein wenig begriffsstutzig erscheint, außerdem wegen seiner Hörschwäche – die er selbst im Übrigen nicht als ein Problem anerkennt – in einer eigenen Welt lebt, das mag die Tat begünstigt haben. Der Chef habe ihn ständig provoziert, sagte er. Nun – wenn er als Küchenhelfer eine Sensation gewesen wäre, wäre es wohl nicht so gewesen, mag man da denken.
Auch zwei im Gerichtssaal anwesende Stammgäste denken wohl so. Wobei die wissen müssten, wenn in der Rotuvilla Gästen Glasscherben ins Essen getan würden, schlechte hygienische Zustände herrschten, die der Angeklagte dem Restaurantbetreiber wiederholt vorgeworfen haben will und wegen derer er sich unter anderem nach dem Angriff im Recht sieht. Allein: Das Rotuvilla ist eines der beliebtesten Restaurants in der Gegend, wird als „echter Italiener“ geschätzt. Das passt nicht.
Und wie Alessandro P. die Tat schildert – das passt auch nicht: Demnach habe der Chef hinter ihm gestanden, Rücken an Rücken. Er habe dann ein Messer gezückt – wir sind beim Chef -, um mit diesem auf P. loszugehen. Er, P., habe sich dann ebenfalls ein Messer gefasst und zugestoßen. Notwehr, so die Strategie. Völliger Unsinn, dagegen, denn der Restaurantbesitzer wies Stichverletzungen im Nacken auf. Er ist, das wird ein Rechtsmediziner ausführen, von hinten angegriffen worden. Deshalb wirft die Anklage Alessandro P. ja auch versuchten Mord vor – der Heimtücke wegen und weil er sein ahnungsloses Opfer überrascht habe.
Bis das alles aus Alessandro P. heraus geholt ist, sind zwei Stunden vorbei. Die Schwüle im Saal: drückend. Und der Prozess: Immer hart an der Grenze. Es besteht das Recht des Beschuldigten nicht nur auf einen fairen Prozess, sondern auch darauf, ihm folgen zu können. Ihn verstehen zu können, intellektuell wie sprachlich. Mit beidem hat aber der gebürtige Italiener offenkundig so seine Probleme.
Er radebrecht Deutsch in einer Weise, dass ihm niemand im Saal folgen kann, auch inhaltlich. Er versteht selbst dann kaum etwas vom Gesprochenen, wenn die Dolmetscherin ihm genau gegenüber sitzt und ihre beiden Gesichter nur wenige Zentimeter trennen. Wenn sie dann nicht deutlich formuliert, der Angeklagte die Lippenbewegungen erkennen kann, dann driftet er ab. Oder wendet sich ab – resigniert. Wie schon im Januar von seinem damaligen Chef? Immer wieder wird Alessandro P. von Richter Münzer ermahnt, doch bitte Italienisch zu sprechen – selbst auf diese Ermahnungen versucht er, auf Deutsch zu antworten. Es ist ein Drama. Vor allem, weil Alessandro P. derweil mit sich im Reinen scheint.
Richter Münzer versuchte immer wieder, den Mann zu provozieren. Dass es ja wohl keinen besseren Küchenchef gegeben habe als ihn, Alessandro P. Dass er sich damals als den eigentlichen Chef gesehen habe. Dass er deshalb auf seinen Chef losgegangen sei, der Kritikwürdiges entdeckt und auch angesprochen habe. Die Antworten bleiben nebulös – der Sprachbarriere wegen und weil der Abgeklagte oft nicht zu wissen scheint, was denn nun wieder gemeint ist.
„Es ist manchmal zu komplex, er versteht es nicht“, lässt sich die Dolmetscherin vernehmen. Ihren Kollegen hat Alessandro P. zu diesem Zeitpunkt quasi schon verschlissen. Dieser kam mit der schnellen Anklageverlesung, der Forderung des Richters, simultan zu übersetzen, und der Neigung des Angeklagten, die Kopfhörer wegzulegen und sich abzuwenden, nicht klar.
Was nun wohl das Gericht vor diesem Hintergrund mit seinen Aussagen machen wird? „Was der bekommen hat, ist seine Schuld, nicht meine“, ist so ein Satz. Alessandro P. sprach da über sein mutmaßliches Opfer. Oder: „Ich möchte mich entschuldigen, aber erst möchte ich von ihm eine Entschuldigung.“ Und dass jeder, der ihn so angehe, Gefahr laufe, getötet zu werden. Sagte er, als ginge es um Eine auf die Nase, eine Sache unter Männern. Dabei geht es um versuchten Mord.
Der Prozess wird fortgesetzt. Vier Verhandlungstage sind anberaumt.