Vor hundert Jahren, an Weihnachten 1923, war in Rottweil ein Aufatmen zu spüren. Am Ende eines schlimmen Jahres keimte wieder Hoffnung.
Es war eine üble Rüttelstrecke, die die Deutschen damals durchlebten. Los ging es im Januar 1923: Französische und belgische Truppen rückten ins Ruhrgebiet vor, ins Herz der deutschen Schwerindustrie. Ermutigt von der Reichsregierung leistete die Bevölkerung passiven Widerstand
Die Folgen ruinierten die Staatsfinanzen und die Wirtschaft. Es kam zu einer rasenden Inflation, die die Ersparnisse breiter Schichten vernichtete. Erst im November konnte sie durch eine Währungsreform gestoppt werden.
Zugleich war Deutschland politisch zerstritten. Linke Umsturzpläne und rechte Attacken setzen der jungen Republik zu. Am 8. November verkündete Adolf Hitler im Münchener Bürgerbräukeller die „nationale Revolution“. Zwar schlug die Landespolizei den Putschversuch rasch nieder. Aber die Geschehnisse brannten sich gegen Ende eines katastrophalen Jahres tief ins Gedächtnis ein.
Wie wurde als dies alles in Rottweil aufgenommen? Welche Auswirkungen hatten die Entwicklungen? Die beiden damaligen Rottweiler Zeitungen bieten Einblicke: der „Schwarzwälder Volksfreund“, der der in Rottweil starken katholischen Zentrumspartei nahestand. Und die „Schwarzwälder Bürger-Zeitung“, das von der Familie Rotschild herausgegebene, in liberaler Richtung geführte Bezirksamtsblatt.
Rheinlandbesetzung
Dass ab 11. Januar französische und belgische Truppen in das Ruhrgebiet bis Dortmund einmarschierten, führte in den hiesigen Zeitungen zu einem Sturm der Entrüstung.
Die Besetzung wurde als widerrechtliche Fortführung des Krieges gesehen. „Bürgerzeitung“ und „Volksfreund“ berichteten vom Widerstand, von Repressionen und Gewaltexzessen der Besatzer, wie einer Beschlagnahmung am 31. März 1923 in Essen, bei der dreizehn Krupp-Arbeiter ihr Leben verloren oder einem Gewaltausbruch in Dortmund am 11. Juni 1923, bei dem neun Menschen starben.
Beide Zeitungen waren stark patriotisch gestimmt. Die „Bürgerzeitung“ sprach wiederholt von „unseren Helden im Ruhrrevier“. Bereits im Januar 1923 informierten die Zeitungen über Solidaritätsaktionen, die sich über Monate hinzogen. Nach der nationalen Kraftanstrengung war auch in Rottweil die Frustration groß, als im September 1923 der passive Widerstand aufgegeben wurde.
O jerum: keine Fasnet!
Zur Gegenwehr gehörte, dass nach der Rheinlandbesetzung das öffentliche Leben in eine Art Kriegszustand versetzt wurde. In diesem Kontext fasste die Vorstandschaft der Rottweiler Narrenzunft am 17. Januar 1923 den Beschluss: „Wenn die allem Völkerrecht widersprechende Besetzung des Ruhrgebietes über die Fasnacht andauert, soll von einer Veranstaltung der Narrensprünge abgesehen werden“.
Am 21. Januar 1923, stimmte die Generalversammlung dieser Linie zu. Damit waren die Weichen für einen Ausfall der Fasnet gestellt. Da sich die Lage nicht entspannte, wurde eine Durchführung der Sprünge immer unwahrscheinlicher. Als die Franzosen Anfang Februar auch in Baden einfielen, war eine Straßenfasnet vollends ausgeschlossen.
Den Zeitungen kann man entnehmen, dass der Verzicht auf die Fasnet die Rottweiler beschäftigte und traurig machte. Zeugnis davon geben zwei Gedichte, die in beiden Zeitungen abgedruckt wurden. Das eine appelliert an Vernunft und Verantwortung. Es spricht davon, dass es gelte, „besonnen“ zu sein und deswegen die alten Masken „diesmal im Schrein“ zu lassen.
Der Groll dabei wird kaum verdeckt. Wenn der „deutsche Adler“ einmal wieder mit scharf gewetztem Schnabel über dem Rhein aufsteige, heißt es, drohend: „Dann Franzmann huhuhu!“ Das zweite ist milder gestimmt. Es tröstet mit der Aussicht, dass der Verzicht auf den „schönen Narrenzug“ von der Nachwelt sicher als ehrenvolle Tat gewürdigt werde.
Drohende Zersplitterung
Durch die Ruhrbesetzung erhielt der rheinische Separatismus Auftrieb, der schon während der Revolution von 1918/19 einen Anlauf zur Errichtung einer eigenständigen Republik unternommen hatte. „Los-von-Berlin“ lautete die Parole. Unter diesem Kampfruf sollte die 1815 erzwungenen Eingliederung der Rheinprovinz in den preußischen Staat rückgängig gemacht werden. Militante Aktivisten riefen am 21. Oktober 1923 in Aachen die unabhängige „Rheinische Republik“ aus.
In Rottweil nahm man diese Vorgänge gespannt zur Kenntnis. Der „Volksfreund“ titelte am 24. Oktober „Der rheinische Putsch“, und versuchte einzuschätzen, wie die Bevölkerung vor Ort zu den Vorgängen stehe. Dass die Menschen die separatistischen Maßnahmen hinnähmen, wurde als Hinweis gedeutet, dass die Bewegung „nicht abgeschottet“ sei.
Abspaltungskräfte zeigten sich auch in der Pfalz. Hier ging es allerdings nicht um eine Trennung vom Reich, sondern nur von Bayern. Die Rottweiler Zeitungen positionierten sich jedoch zunehmend deutlich gegen die Separatisten. Den Rheinländern warf der „Volksfreund“ „Sonderbund-Terror“ vor. Und die Pfälzer, die sich bis Februar 1924 halten konnten, wurden in beiden Blättern als „Verräter“ bezeichnet.
Hitlerputsch und Währungsreform
Im Spätjahr 1923 steuerte die Wirtschaft auf eine Kernschmelze zu: Der US-Dollar, der 1918 bei 42 Reichsmark gelegen hatte, kostete das Tausendmilliardenfache. Das machte Millionen Rentner und Sparer zu armen Schluckern. Aber auch bei der staatlichen Ordnung schoss die Fieberkurve hoch.
Am 8. und 9. November wollte von Adolf Hitler und Erich Ludendorff angeführte Nationalsozialisten von München aus die Regierungsgewalt in ganz Deutschland an sich reißen. Der „Schwarzwälder Volksfreund“ druckte bereits 9. November auf der Titelseite einen Aufruf der Reichsregierung, die klarstellte, dass sich jeder, der den Putsch unterstütze, zum „Hoch- und Landesverräter“ mache.
Auch die „Schwarzwälder Bürgerzeitung“ stellte sich gegen die Putschisten. Dem „deutschen Volk in seiner furchtbaren Not“ drohten nun wieder weitere „innere Zersetzung und äußere Demütigung“.
Inflation und Auswanderung
Die Hyperinflation führte in der Region 1923 zu schlimmen Notlagen. Schon am 26. März berichtete der „Volksfreund“, dass es seit Jahresanfang zu „1000, 2000, ja 3000% Steigerung“ bei vielen Preisen gekommen sei. Im August 1923 kostete ein Pfund Fleisch eine Million, ein Meter Anzugstoff drei Millionen Mark.
Von der Alltagsebene zeugen die Annoncen in den Rottweiler Zeitungen. Zahlreich waren 1923 Werbeanzeigen für Überfahrten auf die andere Seite des Atlantiks. Diese Annoncen machen deutlich, dass 1923 viele angesichts der Not übers Auswandern nachdachten – und den Schritt oft auch wagten.
Der „Volksfreund“ griff das Thema am 15. März 1923 mit bitterem Unterton auf: „Der Ausreiseverkehr nach Amerika aus dem Schwarzwald ist ein sehr reger,“ berichtete das Blatt. „Die wirtschaftlichen Zustände unserer Heimat, verbunden mit einer gewissen politischen Depression, die auf Seele und Gemüt weitester Kreise lastet, muntern zur Ausreise an.“
Der „Volksfreund“ warnte jedoch vor überzogenen Erwartungen: „Tüchtige Handwerker können zweifellos in den USA ihr gutes Auskommen bekommen“. Für andere Berufe sei die Sache schwieriger: „Geschenkt wird niemand etwas in Amerika“. Restlos auf die alte Heimat verzichten mussten Ausgewanderte übrigens nicht. Denn beide Rottweiler Zeitungen konnte man auch im Ausland beziehen.
Verändert zeigen sich die Anzeigenspalten nach Einführung der Rentenmark Mitte November. Rasch finden sich mehrere Seiten mit großen Inseraten, die Geschenke für das näher rückende Weihnachtsfest ins Blickfeld der Leser rückten.
Am Ende des krisengeschüttelten Jahres wirken die Anzeigenseiten, als sei ein Vorhang aufgegangen. Man hoffte in Rottweil und war sich zusehends sicher, dass, wie die „Bürgerzeitung“ am Silvestertag 1923 schrieb der „Wendepunkt“ zum Besseren erreicht sei.
Info: Dieser Beitrag ergänzt die mehrteilige Reihe der NRWZ zum Krisenjahr 1923 und schließt sie ab.