Noch einmal den Weg zum Strand gehen, einen griechischen Frappé trinken, die intensiven und so vertrauten Gerüche und Geräusche der Insel aufsaugen – Sina Mikiqi-Höfler wünscht sich nichts sehnlicher als das. Doch dieser auf den ersten Blick einfacher Wunsch fühlt sich für die 59-Jährige, die seit einem Jahr einen verbitterten Kampf gegen Krebs führt, fast unerreichbar. Denn noch wollen ihre Beine nach der Chemotherapie nicht so laufen, wie sie es braucht, um die Reise anzutreten. Noch fühlt sich der Körper nicht stark genug. Aber der Wille. So steht es in einer Pressemitteilung der Klinik.
Als Sina Mikiqi-Höfler auf der Palliativstation der Helios Klinik Rottweil ihre Geschichte erzählt, ist sie überzeugt: „Ich werde in diesem Flieger sitzen und gemeinsam mit meiner Schwester diese Reise machen. Ich will nur noch ein einziges Mal nach Hause. Ich möchte griechische Gerichte kochen. Ich möchte zurück an die Plätze, wo wir als Kinder waren. Ich möchte ganz allein am Meer sitzen, die Luft einatmen und mit allem abschließen – damit endlich ein bisschen Frieden in mein Leben kommt“, sagt sie.
Viele Schicksalsschläge erlebt
Sina Mikiqi-Höfler ist in Deutschland auf die Welt gekommen, im Alten Spital in Rottweil. Sie spricht ein gepflegtes Schwäbisch, kennt sich bestens in der Gegend aus – und trotzdem leuchten ihre Augen ganz anders, wenn sie von „da unten“, von der Insel Korfu erzählt. Dort hat ihre Oma gelebt – und die große Familie, die vielen Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel versammelten sich in den Sommerferien in Omas Haus.
„Mein Leben war richtig schlimm, aber da war ich glücklich. Ich habe immer von diesen Momenten, von den Gedanken an die Kindheit da unten gezehrt“, sagt Sina Mikiqi-Höfler heute. Ihr Leben in Deutschland war nicht einfach: Sie ist in den 60er-Jahren als „Ausländerkind“ aufgewachsen, hat auch als Erwachsene Gewalt und mehrere Schicksalsschläge erlebt. Der letzte liegt gerade mal zwölf Monate zurück: Die niederschmetternde Diagnose Scheidenkrebs.
Körper kommt mit der Chemotherapie nicht klar
„Ich werde diese Schmerzen nie vergessen, solange ich noch lebe“, sagt sie. Auf die Diagnose folgten eine OP und eine Chemotherapie, die Sina Mikiqi-Höfler abbrechen musste, weil ihr Körper damit nicht klargekommen ist. Ihre Haare hat sie trotzdem verloren – und die ganze Kraft in ihren Beinen. „Meine Haare waren immer mein ganzer Stolz. Ich hatte so richtig schöne griechische Haare – lang, dick, wellig. Wenn ich mir aber aussuchen dürfte, würde ich heute auf jeden Fall lieber meine Beine zurückhaben. Ich brauche sie gerade so sehr!“ sagt sie.
Deshalb übt sie auf der Palliativstation in der Helios Klinik Rottweil jeden Tag mit dem Rollator. Mal klappt es besser, mal schlechter; sie gibt nicht auf. „Ich muss da runter, auch wenn ich auf allen Vierern auf dem Flughafen laufen muss.“
„Ich habe keine Wut mehr und habe allen vergeben“
Der Krebs von Sina Mikiqi-Höfler hat mittlerweile in die Lunge gestreut. „Ich habe mich damit abgefunden, dass ich sterbe. Ich habe es akzeptiert. Ich habe keine Wut mehr und habe allen vergeben“, sagt die 59-Jährige. Doch der Traum, noch einmal zu Hause zu sein, lässt sie nicht los. „Wissen Sie, wenn ich dort aus dem Flugzeug steige, die Augen schließe und diesen Geruch spüre – es ist, wie wenn die Oma die Türe aufmacht und uns Enkelkinder sieht, uns packt und abknutscht, bis wir klatschnass sind“, sagt sie.
An ihre Oma erinnert sie sich gern. „Ich sehe sie, wie sie in der Räucherkammer sitzt und den Thunfisch macht. Wie sie Käse macht. Ich weiß noch gut, wie sie nach Knoblauch gerochen hat – den hat sie pur gegessen. Jetzt weiß ich, worauf es im Leben ankommt – nämlich darauf, sich geliebt und geborgen zu fühlen.“
Herzlichkeit auf Palliativstation
Sina Mikiqi-Höfler will sich bei vielen Menschen für die Unterstützung bedanken – vor allem bei ihrer Schwester und bei ihren Eltern. „Ich bin auch dankbar, dass ich so eine tolle Tochter habe. Und auch hier auf der Palliativstation bin ich so gut aufgehoben. Dieses „Von-Herzen-Kommende“, „Nicht-Aufgesetzte“ – das macht mich glücklich“, sagt sie. „Sie haben sich alle so sehr um mich gekümmert: die Pflegerin Nadine, die Pflegerin Lisa, der Pfleger Kevin, die Nachtschwester Rosi, Doktor Mohsen und Doktor Wagner, die „Essensfrau“ Frau Schmidt, der nette Physiotherapeut und noch viele andere“, fügt sie hinzu.
Kleine Dinge und Gesten bedeuten ganz viel
Auf Station wissen alle um ihren großen Traum und versuchen mit vereinten Kräften, das Unmögliche möglich zu machen. Das kann jeder und jede auf eine ganz andere Weise – mit selbst gebackenen Nussecken in der Nacht, wenn die Verzweiflung überhandnimmt und die Hoffnung schwindet; mit einem neuen Medikament, das vielleicht hilft, das Wasser aus den gequälten Beinen zu ziehen; oder mit einer Pediküre für bunte Fußnägel und eine Prise Mut. Die Palliativstation ist ein Ort, an dem solche kleinen Dinge und Gesten ganz viel bedeuten können.
„Ich wünsche mir nichts mehr als das“
„Du schaffst das“, sagt Nadine Garcia-Romero, wenn die Patientin mal wieder zu zweifeln beginnt. „Du schaffst das ganz bestimmt!“ Man gönnt es Sina Mikiqi-Höfler so sehr.
Jede Nacht in der Klinik träumt sie von der Heimat, von dem Weg zum Meer, davon, wie sie zwischen den Olivenbäumen zum Strand läuft. „Ich wünsche mir nichts mehr als das. Noch mal auf dem Balkon sitzen und das einfache Essen genießen, noch mal am Strand sein, noch ein letztes Mal durch den Markt laufen, mit all den Streitereien. Noch ein letztes Mal glücklich sein.“