„Die ganz dunkle Seite“ – Landgericht Rottweil spricht Haftstrafe für Pädophilen aus

Wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern ist ein 43-Jähriger am Freitag vom Landgericht Rottweil zu einer Haftstrafe von siebeneinhalb Jahren verurteilt worden. Das Urteil ist rechtskräftig. Unter Tränen nahm es eine Zuschauerin auf – eine Vertreterin einer Opferorganisation, die sich an eigene Erlebnisse erinnert fühlte. Auch ein früherer Arbeitgeber des 43-Jährigen war da. Und Ex-Kollegen.

Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Mann in mehreren Missbrauchsfällen zum Täter geworden war. Teils in Tateinheit mit Vergewaltigung und anderen Sexualdelikten, etwa dem Filmen dieser Aktionen, dem Herstellen von kinderpornografischen Inhalten – allein das in mehr als hundert Fällen. Die Tatorte: die Freibäder in Oberndorf und Sulz, unter anderem. Auch Nachhilfeeinrichtungen waren darunter, in denen der Mann damals noch arbeitete. Der frühere Lehrer, der zuletzt als Postzusteller tätig war, nahm das Urteil mit geradem Rücken entgegen. Laut dem Richter leide er sehr unter seinen sexuellen Vorlieben für kleine Jungs, zeigte sich vor Gericht umfänglich geständig.

Unter den Zuhörern der Urteilsverkündung war eine Vertreterin einer Opferinitiative – die in Tränen ausbrach, „weil alles wieder hochkommt“, wie sie der NRWZ sagte. Offenbar selbst erlebtes. Ebenso unter den Zuhörern: ein früherer Arbeitgeber des heute 43-Jährigen. Einen Arbeitsplatz, den er verlassen musste, als erstmals seine Neigungen bekannt wurden. „Wir lassen ihn nie mehr aus den Augen“, prophezeite der Mann im Gespräch mit der NRWZ. Ehemalige Kollegen des Verurteilten begleiteten ihn.

Taten im Dunkeln, die „durch einen glücklichen Umstand“, so der Vorsitzende Richter am Landgericht Rottweil in der Urteilsbegründung, 2023 ans Licht gekommen sind. So meldete sich zunächst der Vater eines siebenjährigen Jungen bei der Polizei Oberndorf. Sein Sohn habe eine Beobachtung im dortigen Freibad gemacht – dass ein Mann eine Linse im Handtuch gehalten habe. „Der Junge, pfiffig, hat der Befragung durch seinen Vater standgehalten, ‚das war kein Duschgel, das war eine Kameralinse‘“, berichtete der Richter. Das habe intensive Ermittlungen der Polizei ausgelöst, mehrere Durchsuchungen bei dem Mann zuhause. Die Filme etwa aus den Schwimmbädern tauchen auf, es wird außerdem klar, dass der Mann einen Bub aus dem direkten Umfeld schwer missbraucht hat, der ihm wie einem Ersatzvater zugetan, von seiner arglosen, alleinerziehenden Mutter anvertraut war.

Der Mann ist einschlägig vorbestraft, verlor bereits vor Jahren seine Lehrerstelle wegen des Besitzes von kinderpornografischen Bildern. Von tausenden dieser Bilder. Er absolvierte bereits eine Therapie, um seine pädophilen Neigungen zu bekämpfen, erhielt Straferlass. Um dann, Jahre später, dem inneren Druck wieder zu erliegen. Der „ganz, ganz dunklen Seite, die sich hinter seinem freundlichen Gesicht verbirgt“, wie es der Richter formulierte.

Im Verfahren habe sich der Mann von Anfang an voll geständig gezeigt, seine jungen Opfer mussten für die Urteilsfindung nicht vernommen werden, berichtete der Vorsitzende Richter am Landgericht. Die Vernehmungen von Ermittlern, aber auch etwa der Mutter des Buben, die ihren Sohn unwissentlich einem Pädophilen anvertraut hatte, fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Für den Moment, habe sie zusammengefasst, dass der Junge keine bleibenden Schäden davongetragen habe. Er spreche noch heute positiv über den ehemaligen väterlichen Freund – außer über die Sexspiele, zu denen dieser ihn brachte. Die Erinnerung daran lässt Tränen fließen. Der Bub war sieben und acht Jahre alt, als er missbraucht wurde.

Nun müsse der Mann lernen, dass er Freundschaften etwa zu einer Mutter mit einem kleinen Jungen nicht mehr eingehen dürfe. Dass er nicht mit diesen alleine sein dürfe. Dass seine „ganz dunkle Seite“ nicht mehr zum Vorschein kommen dürfe. Eine pädophile Seite, die ihn widerliche sexuelle Handlungen an Kindern vornehmen ließ. Eine Persönlichkeitsstörung, eine seelische Störung sah das Gericht – analog zum Gutachter – nicht vorliegen. Allerdings eine Präferenzstörung, ein pädophiler Hang zu kleinen vorpubertären Jungen. Er übe an Kindern aus, was er sich selbst wünsche. Er habe sich jeweils in einer „Spielsituation“ befunden, habe beim Sexspiel mit etwa dem Sohn seiner Bekannten Märchen vorgelesen. Es sei ihm nicht um die eigene Befriedigung gegangen. Er habe sich vielmehr suchtähnlich verhalten.

Strafmildernd habe die Kammer berücksichtigt, dass der Mann vollumfänglich geständig gewesen sei, was die Beweisführung erheblich vereinfacht habe. Auch sei er wieder zu einer Therapie bereit. Und er habe seinem jungen Opfer gegenüber nie ein Klima von Angst und Gewalt erzeugt. Davon, dass der Mann seine sexuellen Handlungen oft am anscheinend schlafenden Kind vorgenommen habe, zeigte sich die Vertreterin der Opferorganisation derweil nicht überzeugt. Ihrer Ansicht – und anscheinend auch ihrer Erinnerung – nach stelle sich das Opfer in solchen Situationen vielmehr schlafend. Und bekomme alles mit.

In Fußfesseln kam der Mann in den Gerichtssaal, nach rund einer Dreiviertelstunde wurde er wieder abgeführt. Mit dem Ziel einer Haftanstalt und einer jahrelangen Sozialtherapie in Strafhaft. Während dieser müsse er endlich lernen, sich zu begrenzen, so der Richter. Ein Stoppsignal im Kopf, eine innere Grenze erlernen, diese in der Therapie aufbauen. Das könne gelingen, es werde aber ein langer und schwieriger, ein schmerzlicher Weg, sich seiner dunklen Seite zu stellen.

Der missbrauchte Junge, der werde allerdings keinen Schlussstrich erleben, so der Richter abschließend. Die Taten würden ihn als Opfer ein Leben lang begleiten.

Nicht öffentliche Verhandlung im Schwurgerichtssaal des Rottweiler Landgerichts. Foto: gg

UNSER ERSTBERICHT ÜBER DEN PROZESSBEGINN:

Kleine Jungen sexuell missbraucht – und die Öffentlichkeit soll das wissen

Widerlich, was der Mann laut Anklage mit kleinen Jungen angestellt hat – und weswegen ihm nun der Prozess gemacht wird. Der 43-Jährige hat mehrfach einen ihm von einer Bekannten anvertrauten Jungen missbraucht, sagt die Anklage, und listet im Einzelnen schlimme Fälle auf. Außerdem soll der Mann Filmchen nackter Buben gedreht haben. Tatorte: das Freibad in Sulz und Nachhilfeeinrichtungen in Oberndorf und Rottweil. Die angeklagten Taten des ehemaligen Postzustellers, der heute in U-Haft sitzt, sind öffentlich verlesen worden, das wollte das Gericht so. Die eigentliche Verhandlung findet in diesen Tagen nicht-öffentlich statt.

Zwei Verteidiger, zwei MacBooks, zwei Kaffeebecher to Go, doppelte Geschäftigkeit auf der Anklagebank. Die Staatsanwältin dagegen geht den Prozess gegen den 43-Jährigen alleine an. Die Haare zum Zopf gefasst, die Nase frisch geputzt, die Verhandlung kann beginnen. Der Angeklagte fehlt allerdings noch, er wird erst später an den Füßen gefesselt in den Saal geführt. Die Staatsanwältin tauscht sich daher mit dem psychologischen Sachverständigen aus: über die Parksituation rund ums Gerichtsgebäude und die Notwendigkeit, rechtzeitig Mittag zu machen, bevor der jeweils gelöste Parkschein abläuft.

Der Angeklagte selbst: früh ergraut, schlank, recht groß, gepflegt bärtig. Mit ovaler Brille und kräftigem Oberkörper im weißen T-Shirt sitzt er auf der Anklagebank. Er macht einen entschuldigenden, ängstlichen, beschämten Eindruck. Tom B. (Name geändert) wirkt wie der nette, anständige Mann von nebenan. Zuletzt arbeitete er im Kreis Rottweil als Postzusteller und wohnte im Landkreis Freudenstadt. Jetzt sitzt er in Untersuchungshaft.

Der erste Antrag der Verteidiger des Mannes: die Öffentlichkeit auszuschließen, und das auch schon während er Verlesung der Anklage. Es gebe „schutzwürdige Interessen des Angeklagten“. Das sieht die Kammer anders, nach den Worten des Vorsitzenden Richters verfolgt sie das Ziel, wenigstens die Taten, die dem Mann vorgeworfen werden, öffentlich zu machen. Es bestehe ein großes Interesse seitens der Öffentlichkeit. Wenigstens „die Stationen seines Lebens ohne die Sexualpräferenzen“ könne man auf diese Weise abarbeiten. Doch der Antrag der Anwälte ist gestellt, es muss entschieden werden. Mit der Beratung hinter den Kulissen lässt sich die Kammer viel Zeit. Da wurde keine schnelle Entscheidung gefasst. Im Saal ist es währenddessen ruhig. Die Verteidiger unterhalten sich in gedämpfter Lautstärke. Minütlich rückt der große Zeiger an der Wanduhr weiter. Mit einem vernehmbaren Klacken. Er ist etwa zwei Minuten hinter der Zeit. Einer der Verteidiger spielt ein wenig mit seinem iPhone. Der Angeklagte wirkt in sich versunken.

Dann springt die Tür zum Richterzimmer auf, die Kammer kommt zurück in den Saal und es wird verkündet: „Der Antrag der Verteidigung auf Ausschluss der Öffentlichkeit während der Verlesung der Anklage wird abgewiesen.“ Es überwiege das öffentliche Interesse. Außerdem agierte der Mann teils im öffentlichen Raum, im Toilettenbereich eines Nachhilfeinstituts und in einem Freibad. Und an dem Jungen habe er sich nicht innerhalb seiner Familie vergangen, sondern es handele sich um den Sohn einer Bekannten. Die Verteidigung nimmt diese Niederlage hin.

Öffentlichkeit: Ja oder nein?

Die Fragen der Schuld- und Steuerungsfähigkeit, die Fragen nach einer möglichen seelischen Störung wie die der Pädophilie, sollen nicht-öffentlich erörtert werden. Ebenfalls hinter verschlossenen Türen werde man eine Vielzahl an kinderpornografischen Bildern sichten. Das ergebe für den Angeklagten die Möglichkeit, sich in einem geschützten Rahmen zu den Vorwürfen zu äußern.

Die Taten, allerdings, die sollen an die Öffentlichkeit gelangen. Diese erfährt: Das Opfer des Mannes ist ein im September 2014 geborener Bub. Heute also zehn Jahre alt, zu den Tatzeiten höchstens acht. Seine Mutter war seinerzeit alleinerziehend, eine Arbeitskollegin des Mannes. Er freundet sich 2021 mit ihr an und vor allem auch mit dem Jungen. Die Mutter vertraut dem Arbeitskollegen und Freund so sehr, dass sie es zulässt, dass er ihn ins Bett bringen darf, während sie nicht da ist. So vergeht er sich an dem Bub, kommt abends und nachts an sein Bett, streichelt seinen nackten Hintern, nimmt den kleinen Penis des Buben in den Mund – und filmt das alles. Es spitzt sich zu im Jahr 2023, die Übergriffe geschehen alle paar Tage, über Monate hinweg. So verliest es die Staatsanwältin. Der 43-Jährige nimmt die Anklage mit gesenktem Blick auf. Etwa, dass er selbst Oralverkehr mit dem Jungen gehabt habe. Egal, ob dieser schlief oder nicht. Alles ist auf Video, teils existieren auch Fotos. Und er hat eine Videokamera im Bad versteckt, die den Jungen heimlich beim Duschen filmen konnte. Und eine weitere, die den Jungen zeigte, wenn er im Stehen pinkelte. Genauer: die sein Genital aufnahm.

Filme von nackten Jungen

Der zweite Tatort: das Freibad „Susolei“ in Sulz. Dort soll Tom B. unbekleidete männliche Kinder in der Dusche gefilmt haben. Vor allem deren Intimbereich, nachmittags und abends. Meist zwei Aufnahmen am Tag im Sommer 2022. „Auch in der folgenden Freibadsaison im Jahr 2023 filmte der Angeklagte in der Herrendusche des Freibads Susolei in Sulz Kinder und Jugendliche im Genitalbereich“, heißt es weiter in der Anklage. Die Zahl der Taten nimmt demnach zu, alleine elf Filme soll er an einem einzelnen Tag im Oktober 2023 von nackten Buben angefertigt haben.

Und schließlich filmte er auch noch in mehrfach in den Toilettenräumen der „Schülerhilfe“ in Oberndorf und Rottweil. Wie er das anstellte, bleibt unklar.

Der Mann speicherte die Filme auf einer externen Festplatte, auf einem Laptop und zwei PCs. Hunderte Dateien. Darunter gab es auch Videos, die drei- bis sechsjährige Jungen zeigen, die gegenseitig Oralverkehr vornehmen, beispielsweise. Und Analverkehr zwischen einem Bub und einem Erwachsenen ist zu sehen.

Polizeieinsatz, Untersuchungshaft, Prozess

Das Ende dieses Treibens markiert eine polizeiliche Durchsuchung der Wohnung des Mannes. Dort werden die Filmchen entdeckt. Wie man dem Mann auf die Schliche kam, bleibt allerdings unklar. In den kommenden Tagen nun wird ihm der Prozess gemacht wegen der sexuellen Handlungen mit dem Jungen, wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen und wegen des Besitzes und Herstellens kinder- und jugendpornografischer Inhalte. Und wegen der Verletzungen der höchstpersönlichen Lebensbereiche der jungen Menschen.

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Peter Arnegger (gg)

… ist seit gut 25 Jahren Journalist. Seine Anfänge hatte er bei der Redaktion der “Schwäbischen Zeitung” in Rottweil, beim Schwäbischen Verlag in Leutkirch volontierte er. Nach einem Engagement bei der zu diesem Verlag gehörenden Aalener Volkszeitung wechselte Arnegger zur PC Welt nach München, einem auf Computer-Hard- und -Software spezialisierten Magazin. Es folgten Tätigkeiten in PR und Webentwicklung. 2004, wieder in seiner Heimat angekommen, half Arnegger mit, die NRWZ aus der Taufe zu heben. Zunächst war er deren Chefredakteur, und ist zwischenzeitlich Geschäftsführer der NRWZ Verwaltungs GmbH – und als solcher der verantwortliche Journalist der NRWZ. Peter Arnegger ist 1968 in Oberndorf / Neckar geboren worden.



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