Ein 23-Jähriger aus Rottweil hat im April 2019 Geld abgehoben. An einem Automaten der örtlichen Volksbank. 50 Euro für Passbilder für einen neuen Ausweis. So weit, so gewöhnlich. Doch stand Monate später, im November 2019, die Polizei vor ihm. Beim Arbeitgeber, zunächst, und dann zu Hause. Durchsuchung, das volle Programm. Dann ein Strafbefehl wegen Computerbetrugs. Gegen den aber wehrte sich der junge Mann erfolgreich. Am Montag setzte ein Freispruch einen Schlusspunkt unter eine ziemlich unsägliche Geschichte.
Ein Fall nach dem Prinzip „Richterin Barbara Salesch“. Nach dem Prinzip: Anklage, Prozess, Zeugenaussagen, Lügen, Verstrickungen, Zweifel, Empörung und am Schluss ein ganz anderer Schuldiger, deshalb Freispruch für den Angeklagten. Und ganz viel zerdeppertes Porzellan.
In Rottweil lief das am Montag ähnlich. Zwar heißt die Richterin hier nicht Salesch, sondern Trauthig, aber auch sie sprach nach gut zweistündiger Verhandlung den Angeklagten frei. Einen echten Schuldigen brachte der Prozess nicht hervor, aber das ist vielleicht der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit.
Der Fall: Am 23. April 2019 hebt ein junger Mann Geld bei der Rottweiler Volksbank ab. 50 Euro, offenbar mit seiner EC-Karte. Zu ungefähr derselben Zeit – es geht um vier Minuten – verwendet an demselben Automaten jemand die Kreditkarte eines Speditionskaufmanns aus Potsdam, die dieser seit dem Vortag vermisst und die er nur wenige Minuten später sperren lassen wird. 500 Euro werden abgehoben, ganz regulär mit der passenden PIN zur Karte. Das erfährt der Potsdamer von seinem Kreditkartenunternehmen. Er erstattet Anzeige bei der Polizei.
Die Polizei in Rottweil bekommt tags darauf den Fall auf den Tisch. Per Fax von den Kollegen aus Potsdam. Es wird ermittelt. Die Beamten lassen sich Überwachungsfotos von der Rottweiler Volksbank geben, passend zu der aus Potsdam übermittelten Zeit. Darauf ist ein junger Mann aus verschiedenen Perspektiven zu sehen, beim Geldabheben. Mit Sonnenbrille und dem T-Shirt eines örtlichen Event-Veranstalters. Die Bilder kommen auf richterlichen Beschluss hin ins Intranet der Polizei, auf die Liste der Gesuchten.
Dass sie tatsächlich den Zeitraum zeigen, in dem die 500 Euro mit der Potsdamer Karte abgehoben worden sind – die Polizei ging davon aus. Die Richterin am Montag nicht mehr.
Im internen Infonetz der Polizei verbleiben die Fotos – darauf ein junger Mann mit einem T-Shirt, das den auffälligen Schriftzug der Eventfirma trägt.
Monatelang passiert nichts. Bis eine 28-jährige Polizeikommissarin bei LIDL den Gesuchten zu erkennen glaubt. Zunächst wegen seines T-Shirts. Und weil sie sich die Gesichter aus dem lokalen Fahndungscomputer einprägt. Sie merkt sich das des jungen Mannes beim Discounter und recherchiert ihn später auf der Website der Eventfirma. Kein Zweifel – das Fahndungsfoto aus dem Geldautomaten und das Bild auf der Website zeigen denselben.
Die Ermittlungen kommen in Gang, und zwar so richtig. Die Polizei taucht bei dem jungen Mann auf, direkt in der Firma. Spricht erst mit einem der Geschäftsführer, dann mit dem Verdächtigen selbst. Erklärt, er werde verdächtigt, mit einer fremden Kreditkarte 500 Euro widerrechtlich abgehoben zu haben.
Seine Wohnung wird durchsucht, sein Auto auch. Sie finden und beschlagnahmen das T-Shirt und die Sonnenbrille, die auf den Überwachungsaufnahmen der Bank zu sehen sind. Sie finden nicht: die Kreditkarte und gegebenenfalls einen Zettel mit der zugehörigen PIN.
Der junge Mann verhält sich nach eigener, aber auch nach Aussage eines Polizeibeamten durchgehend kooperativ. „Ich war aber völlig überrascht, als plötzlich die Polizei dastand“, sagte er nun am Montag vor Gericht. Auch das bestätigte einer der ermittelnden Beamten. Ja, der junge Mann habe nicht den Eindruck gemacht, als wisse er, warum die Polizei gegen ihn ermittle. Ein bisschen Marihuana, das sei erwähnt, ist gefunden worden. Aber wie gesagt: nicht das Corpus Delicti, die Kreditkarte.
Dennoch genügte dieses Ermittlungsergebnis zunächst der Polizei, dann der Rottweiler Staatsanwaltschaft und schließlich einem Richter, um einen Strafbefehl gegen den jungen Mann auszustellen: schuldig des Computerbetrugs, macht 1250 Euro Geldstrafe. Hätte dieses Urteil Rechtskraft erlangt, wäre mutmaßlich auch der Schaden zu ersetzen gewesen, die 500 Euro, die er mit der fremden Visakarte abgehoben haben soll.
Dagegen wehrte sich der 23-Jährige. Mit roten Backen und sehr nervös saß er daher am Montagmittag vor der Amtsrichterin. Schilderte den Fall aus seiner Sicht: dass er Geld abgehoben habe an jenem Tag, das schon, aber nur von seinem Konto und nur 50 Euro. Dass er den Mann aus Potsdam, dessen Kreditkarte er benutzt haben soll, ebenso wenig kenne wie die zugehörige PIN. Dass er nicht wisse, wie er in Verdacht hatte geraten können.
Die Nervosität steigerte da noch ein bisschen, dass der Chef des jungen Mannes, einer der Geschäftsführer der Eventfirma, ebenfalls als Zeuge geladen worden war. Dieser erklärte gegenüber der NRWZ später, dass eine Verurteilung wegen Betrugs zunächst keine Auswirkungen auf den Arbeitsplatz des jungen Mannes in seiner Firma gehabt hätte. „Aber natürlich ist so ein Fall intern immer ein Thema. Man braucht ja Vertrauen in sein Team.“
Als Zeuge konnte der Eventfirmenchef nun – wie alle anderen Zeugen übrigens auch – nichts zur Aufklärung beitragen. Er beschrieb den 23-Jährigen allerdings, das hat er nun hiermit auch schriftlich, als „charakterlich gut, zuverlässig und teamfähig“ und als jemanden, der sich nie etwas habe zuschulden kommen lassen.
Die weiteren Zeugen, die nicht viel Erhellendes im Gepäck hatten: die Kriminalbeamtin, die zwar den Verdächtigen entdeckt und identifiziert, dann aber nichts mehr mit dem Fall zu tun hatte. Der Visakarteninhaber, der nicht weiß, wie ihm die Karte hatte abhandenkommen können und dann nach Rottweil gelangte. Sie habe eines Tages einfach gefehlt. Die PIN kenne zudem außer ihm niemand. Es handle sich um das Geburtsdatum seiner Mutter. Diese verstarb vor acht Jahren.
Und dann war da der ermittelnde Polizeibeamte, der vor einem Grundproblem des Falls stand: Es gab ein kleines Durcheinander bei den Zeitangaben. So hatte der junge Mann am Tattag laut seiner Bank um 17.49 Uhr 50 Euro von seinem Konto abgehoben. Und die betrügerische Abhebung von 500 Euro, die soll rund vier Minuten später, zwischen 17.53 und 17.55 Uhr passiert sein. Ist der junge Mann also zunächst in den Servicebereich der Volksbank gegangen, hat dort Geld abgehoben, ist dann wieder raus und erneut rein, um sich dann mit der fremden Visakarte zu bedienen? Darf man vermuten, aber dann braucht’s dafür Beweise.
Er wurde jedenfalls nur einmal gefilmt. Laut den Angaben der Bank von 17:53:54 bis 17:54:19 Uhr, also 25 Sekunden lang.
Ob es sich dabei um die Abhebung vom eigenen oder vom fremden Konto handelte – nicht mehr belegbar. Wie Christian Bühl, Bereichsleiter Organisation bei der Volksbank Rottweil und in die Ermittlungen der Polizei in diesem Fall eingebunden, der NRWZ auf Nachfrage mitteilt, werden die Videoaufnahmen aus dem Servicebereich der Bank keine sieben Monate aufbewahrt. Nach der Abhebung im April entdeckte man den jungen Mann aber erst nach dieser Zeit. Weitere Aufnahmen gab es damit nicht.
Es sei also möglich, so die Amtsrichterin in ihrer Urteilsbegründung, dass der junge Mann schlicht sein eigenes Geld abgehoben hatte. Dass es dadurch, dass es etwa zwischen den eingestellten Uhrzeiten der Geldautomatenkameras und der Raum-Überwachungskameras leichte Unterschiede gebe, unklar sei, wann genau nun die betrügerische Abhebung vorgenommen worden ist. Dass auch unklar geblieben sei, wie der junge Mann in Potsdam an die Kreditkarte eines ihm unbekannten Mannes gelangt sei. Und woher er die PIN habe.
Es folgte ein Freispruch. Und die Zusage, dass die Staatskasse nicht nur die Prozesskosten, sondern auch die weiteren Auslagen zu zahlen habe. Etwa die für den Rechtsanwalt.
Dieser, Wido Fischer von der Rottweiler Kanzlei fkp Rechtsanwälte, hatte sich für jeden anderen Ausgang des Verfahrens gewappnet. Hatte, wie er sagte, einige Anträge vorbereitet. Er brauchte sie aber nicht, das Gericht folgte gerne seinem Plädoyer wie zuvor auch schon die Staatsanwältin. Freispruch.
Fischer spielte aber doch ein bisschen „Richterin Barbara Salesch“ – also nicht die Frau, sondern die Serie -, indem er Vermutungen streute, wer denn tatsächlich die 500 Euro per Visakarte gezogen haben könnte. Nämlich die Lebensgefährtin des Speditionskaufmanns aus Potsdam, die vielleicht auch die geheime PIN wissen könnte, Geburtstag der Mutter, und so. Diese Lebensgefährtin lebt in der Schweiz, in der Nähe von Luzern. Aus der Sicht Fischers ein Katzensprung nach Rottweil, 200 Kilometer, die man vielleicht auf sich nehmen würde, wenn man als Abhebende unerkannt bleiben wolle, wer weiß. Aber er wolle jetzt niemanden verdächtigen …
Der junge Mann wird darüber hinaus nicht nur für seine Kosten entschädigt, er soll auch die Sonnenbrille und das T-Shirt zurückerhalten, die die Polizei als Beweismittel einkassiert hat. Ob er die noch mal bei einem Einkauf bei LIDL tragen wird?
Und auch der Potsdamer Speditionskaufmann ist nicht auf dem Schaden sitzen geblieben – er bekam einen Teil des Betrags zurück. Nicht die volle Summe, denn er hatte sich mit der Sperrung Zeit gelassen.
Wenn man diesen Fall liest, dann kann einem angst und bang werden, wie leicht man da in etwas hineingeraten kann. Oder empört sein über die Oberflächlichtkeit, ja Schlampigkeit der Justizbehörden. Oder sich nicht mehr wundern, wie Fälle wie Jörg Kachelmann oder Harry Wörz passieren konnten.
Die Verfahrenskosten sollte man denjenigen aufbrummen, die als Staatsanwalt und Richter für den ursprünglichen Strafbefehl verantwortlich waren! Und dass das „Opfer“ den Schaden teilweise ersetzt bekam ist ein weiterer Skandal, die PIN muß geheim gehalten werden, das hat er nicht gemacht, er war vollumfänglich selbst schuld für seinen Verlust, wobei ich hoffe, dass der Herr für die Tatzeit ein Alibi vorzuweisen hatte, falls das überhaupt geprüft wurde!
Respekt für Herrn Fischer, schön dass es noch Anwälte gibt, die nicht nur im Gerichtssaal hocken und zuschauen, wie ihre Mandanten abgeschlachtet und um ihr Recht gebracht werden. Nur den „Katzensprung“ nach Luzern sollte er mal selbst versuchen, mit auskömmlichen Stundensätzen für einen Anwalt hätte die Besorgung von 500 Euro oder SFr. in Luzern nichts mehr zu tun. In diesem Sinne nicht nur „Gute Fahrt“, sondern viel Geduld – und einen wirksamen Tempomat!