Tag 2 im Prozess gegen den mutmaßlichen – und vollumfänglich geständigen – Tankstellenräuber. Erstmals sind Nebenklagevertreter anwesend, eine Anwältin und ein Anwalt. Sie haben sich um die Interessen der Opfer der Überfälle zu kümmern. Um diese ging es an diesem Tag. Um die Opfer. Sie kamen zu Wort – eine junge Frau brach dabei in Tränen aus. Der Angeklagte bat sie jeweils um Entschuldigung, um Verzeihung, alle einzeln. „Nein“, lautete darauf eine der Antworten.
Eines der Opfer: ein 19-Jähriger aus Vöhringen, ein Schüler mit Nebenjob. Er sei am Sonntagnachmittag, 24. September 2023, „Opfer eines Raubüberfalls“ geworden, wie er dem Gericht eingangs seiner Zeugenaussage schildert. Arbeitete an jenem Tag an der Tankstelle, an der der erste Überfall stattfand, in Sulz. Er hatte gerade eine kleine Pause eingelegt, stand an der Notausgangstür, weil es ein ruhiger Moment war, wie er erzählt. Plötzlich sieht er einen maskierten Mann mit Messer – der bereits im Verkaufsraum ist, den er nicht hatte hereinkommen sehen. Dieser fordert Bargeld – und bekommt es widerstandslos. „Alles Geld.“
Das Gericht zeigt dem jungen Mann Bilder einer Überwachungskamera. Er erträgt sie. „Wahrscheinlich hole ich da das Geld raus“, kommentiert er die Fotos ruhig. Ihm gegenüber steht auf den Bildern ein maskierter Mann in einem grauen Hoodie. Auf den Fotos ist auch das Messer zu sehen, das der Mann während der Tat vorhielt.
Der Schrecken hält an
„Bei jedem Kunden, den ich nicht sofort sehe, wenn er in die Tankstelle eintritt, erschrecke ich mich“, sagt der 19-Jährige nun. „Ich schaue mir jetzt jeden Kunden an, wie er aussieht.“ Arbeitsunfähig sei er nicht gewesen, habe die Arbeit an der Tankstelle auch nicht ausgesetzt. Aber seither habe er ein „komisches Gefühl“. Der Richter nennt es „Ängstlichkeit“, die geblieben sei. Und er habe eineinhalb bis zwei Wochen mit dem Schulunterricht ausgesetzt. Wegen Einschlafstörungen. Die seien abgeklungen.
Opfer sollen zu Wort kommen
Der Angeklagte, der 26-jährige mutmaßliche Räuber, zeigt eine gewisse Reue. Sein Geständnis hätte es im Prozess erübrigt, die Opfer als Zeugen zu hören. Doch sei es wichtig, zu erfahren, was die Taten mit den Menschen gemacht haben, erklärte der Vorsitzende Richter der Strafkammer, Karlheinz Münzer. Deshalb wolle man auf die Aussagen der Opfer nicht verzichten, sie ebenfalls zu Wort kommen lassen. Prozessbeteiligte loben diese Art der umfassenden juristischen Aufarbeitung, für die der Vorsitzende bekannt sei.
Der 26-Jährige hat an die Opfer, juristisch: Geschädigten, zwischenzeitlich Entschuldigungsschreiben verschickt. Über seinen Anwalt und das Gericht. Und er sagt nun, direkt an sein junges Opfer gewandt: „Ich möchte mich entschuldigen, für das was ich an diesem Tag getan habe. Und wenn es möglich ist, bitte ich Sie um Verzeihung.“ Der Schüler, der damals an der Tanke arbeitete, nimmt das zur Kenntnis. Er antwortet nicht darauf. Und verlässt den Gerichtssaal, ohne seinen Peiniger nochmal anzusehen.
Ebenfalls heute 19, ebenfalls Schülerin: das zweite Opfer des Tankstellenräubers. Es war am 30. September 2023 in der ARAL-Tankstelle in Oberndorf-Bochingen, berichtet sie. „Um 17.48 Uhr kam der Täter rein, mit Sturmhaube und Messer, und hat die Tankstelle überfallen.“
„Es geht uns vor allem darum, wie Sie das ganze verkraftet haben, welche psychischen Folgen das für Sie hatte“, leitet der Vorsitzende Richter den Teil der Befragung ein, bei dem es still wird im Saal. Nur die Stimme des Dolmetschers ist zu hören, der die Aussage der jungen Frau übersetzt.
Aus dem Leben gerissen – die Zukunft ist ungewiss
Fünf Wochen lang hat sie die Tat aus dem Leben gerissen. Fünf Wochen lang konnte sie nicht arbeiten, ging nicht zur Schule. „Ich hatte Panikattacken“, sagt sie. Und sie bricht in Tränen aus, als sie mit unsicherer Stimme darüber berichtet. Vor der Tat sei sie eine gute Schülerin gewesen, „mit einem Schnitt von 2,1.“ Heute stehe es „auf der Kippe, ob ich bestehe. Ich habe große Lücken.“ Ihre Zukunft, plötzlich offen, unklar, ob sie wird studieren können. Ob sie das schafft. Selbst ihr Sozialleben sei eingeschränkt, sie bekommt Angstzustände, wenn sie unter einer größeren Zahl an Menschen ist, erzählt sie. „Die Freizeitaktivitäten sind fast nicht mehr vorhanden.“ Der Richter machte ihr da Hoffnung: „Unsere Erfahrung ist, dass sich das Trauma gut therapieren lässt“, dass es eines Tages besser werde.
Die junge Frau hat Unterstützung: „Ich hatte zum Glück eine Therapeutin, die mir geholfen hat“, sagt sie. Inzwischen sei sie wieder ziemlich stabil. Aber: Die Einvernahme der Opfer vor Gericht – sie hat nicht nur Vorteile. „Es kam nun alles wieder hoch“, so die 19-Jährige. Sie habe ihre Therapeutin auch erneut gebraucht. „Aktuell einmal wöchentlich.“
Es ist jene junge Frau, die damals für ihre Mutter die Schicht an der Tankstelle übernommen hatte, als der Räuber kam. Inzwischen muss die Mutter immer wieder einspringen, wenn der Tochter die Kraft fehlt, wenn die Angst die Oberhand gewinnt.
Verzeihung? „Nein.“
Auch bei ihr will sich der mutmaßliche Räuber entschuldigen. Er bittet sie über seinen Übersetzer um Verzeihung. „Nein“, lautet die knappe, aber klare Antwort. Mehr möchte sie nicht dazu sagen. „Das eine Wort reicht mir.“
„Ich wurde am 6. Oktober überfallen. Du mir Geld geben“, habe der Täter befohlen. So berichtete eine 52-Jährige. Sie arbeitete damals an der Nordgarage in Rottweil. Dort, wo der Räuber nicht erfolgreich war, nicht an Geld kam. Denn der Chef der Verkäuferin kam hinzu, habe dem Täter gesagt, er solle sich nicht unglücklich machen. Und ihm gedroht, ihm eine zu kleben, wenn er nicht verschwinde, berichtet sie. Der Chef ist ein 70-jähriger, kompakter, kräftiger Mann, der auch angesichts eines Messers nicht um Worte verlegen ist. Wörtlich: „Geh arbeiten, Du faule Sau, dann hast Du Geld“, habe er den Mann angegangen, erinnert sich der Chef, ein Kfz-Meister.
Zwei Opfer gewähren ihm Entlastung
Die 52-Jährige berichtet dem Gericht, dass sie die Tat gut überstanden habe. „Sie gehören zu den Glücklichen, die keine negativen Folgen haben“, fasst der Richter zusammen. „Ich habe es ausgeblendet“, antwortet sie. Auch sie hat ein Entschuldigungsschreiben des 26-Jährigen erhalten. Auch sie bittet er um Verzeihung. Sie gewährt ihm diese Entlastung.
Doch: Die Frau hat sechs Wochen nach der Tat bei ihrem Chef gekündigt, arbeitet nicht mehr an der Tankstelle. Nach Jahren der Tätigkeit, sie sei „die Seele des Betriebs“ gewesen, so der Chef. Vier Mal sei er in seiner Zeit als Tankstellenbetreiber bereits überfallen worden.
Er nimmt die Entschuldigung des mutmaßlichen Räubers an. „Er soll’s halt nicht nochmal machen“, antwortet der 70-Jährige mit typisch Rottweiler Humor.
Angst vor Männern mit roten Schuhen
Auch die Angestellte der ARAL-Tankstelle in der Tuttlingen Straße in Rottweil berichtet von Angstzuständen, von Schlafstörungen. Und: Rote Schuhe waren für sie ein Problem. Männer, die rote Schuhe tragen. Rote Schuhe trug der Räuber damals. Der Angeklagte trägt solche auch heute, vor Gericht.
Aufwärts ging es für die Frau, nachdem die Kripo angerufen habe, „wir haben ihn gefasst.“ Sie arbeitet inzwischen wieder an der Tankstelle, die Angst ist latent noch da, aber sie verkraftet das anscheinend weitgehend. Auch sie hatte psychologische Hilfe.
Auch sie kann dem Angeklagten nicht verzeihen.
Letztes Opfer wird von einer Unterstützerin vom Weißen Ring begleitet
Das mutmaßlich letzte Opfer des 26-Jährigen wird für ihre Aussage vor Gericht von einer Vertreterin des Weißen Rings Zollernalbkreis unterstützt, von einer Zeugenbegleiterin, die an der Zeugenbank neben ihr Platz nimmt. Die 52-jährige Kassiererin schildert, wie sie an der Tankstelle in Balingen überfallen wird. Wie der maskierte Mann im Hoodie abends gegen 19.30 Uhr plötzlich auftaucht, Geld fordert, ihr ein Messer vor die Brust hält.
Die psychischen Folgen: „Ich kann nachts nicht mehr unbeschwert raus. Und ich kriege Panik, wenn vor allem jüngere Kunden in einem Hoodie den Shop betreten.“ Auch ängstigen sie jetzt nach Schließung der Tankstelle noch auf dem Parkplatz stehende Fahrzeuge mit Fahrern darin. Gegen ihre Schlafstörungen nimmt sie Medikamente. Sie wurde aus der Bahn geworfen, benötigt psychologische Hilfe. Es sei besser geworden, aber „situationsbedingt“ tauchten auch heute noch Probleme auf. Die früher geliebten Abendspaziergänge sind Geschichte. „Ich muss mich ja schützen.“
Sie kann dem Angeklagten ebenfalls nicht verzeihen.
Wenige Tage später wird der 26-Jährige in Oberndorf-Aistaig festgenommen. Er soll eine Tankstelle ausgespäht haben. Die Polizei findet die Tatkleidung und ein Messer in seinem Wagen.
Mutter verweigert die Aussage
Einen kurzen Auftritt hat die Mutter. Die 57-Jährige macht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Sie und ihr Sohn schauen sich nur für einen Moment an. Beide lächeln, er entschuldigend, sie ein wenig gequält.
Mann ist vorbestraft als Betrüger – Urteil am kommenden Montag geplant
Der 26-Jährige gilt als schuldfähig. Das, so sickerte durch, wird das psychologische Gutachten feststellen. Der Mann ist offenbar für Polizei und Justiz kein unbeschriebenes Blatt, er hatte vor den mutmaßlich von ihm begangenen Überfällen bereits Betrügereien begangen. Das Auto betankt und nicht gezahlt, etwa. Dinge auf einer Anzeigenplattform verkauft, das Geld erhalten, aber nicht geliefert. Solche Sachen, die als Beginn seiner kriminellen Karriere gewertet werden können. Auch versuchte er mehrfach, sich einen Bankkredit mit gefälschten Lohnbescheinigungen zu erschleichen – was zu Geldstrafen in Höhe von mehreren tausend Euro führte. Andererseits ist da die starke Drogensucht, die sein Handeln bestimmte. Allerdings habe er die Taten, die Überfälle auf die Tankstellen, vorbereitet, sich jeweils neu dazu entschlossen, einen Überfall zu begehen.
Am kommenden Montag könnte das Urteil gesprochen werden. Das Verfahren ist um einen Tag verkürzt worden, es wird offenbar maximal ökonomisch geführt. Oder, wie der Vorsitzende vielleicht sagen würde, geschmeidig. Man setzt auf zentimeterdicke Ordner namens Selbstlesehefter für die Prozessbeteiligten.
Auf den 26-Jährigen kommen neben der Haftstrafe auch finanzielle Forderungen zu. Darüber laufen Verhandlungen zwischen den Parteien.