„Er wusste ganz genau, was er tat“

Ein Narzisst, der Passanten den nackten Hintern zeigt. Einer, der über den Friedhof tanzt. Ein laut ärztlichem Urteil kranker Mann, den der Vater einst einen Versager nannte - und der vor Gericht völlig uneinsichtig ist. Um ihn und seine mutmaßlichen Taten in knapp dreistelliger Zahl geht es in einem Berufungsverfahren vor dem Landgericht Rottweil. Hier berichten wir über Tag 3.

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Es bleibt eine Geduldsprobe für alle Beteiligten und nur einer scheint den Gerichtsprozess zu genießen: der 52-jährige mutmaßliche Unruhestifter und Serienbeleidiger aus der Rottweiler Altstadt. An Tag drei des Berufungsverfahrens ging es weiter um die vielen, vielen einzelnen Fälle, die Y., wie wir ihn nennen, vorgeworfen werden. Er streitet den Großteil der Taten ab, während er zudem unter Medikamenteneinfluss wie in Trance gewesen, deshalb vielleicht gelegentlich beleidigend geworden sei. Daher versucht das Gericht, die Vorwürfe abzuarbeiten. Einen kleinen Erfolg konnte Y. am Donnerstag verbuchen, zweimal Körperverletzung durch Anspucken strich der Richter aus der Liste. Diese bleibt dennoch lang.

„Ein sehr, sehr mulmiges Gefühl“ habe er bei Einsätzen in der Vogelsangstraße gehabt. So schildert es ein Rottweiler Feuerwehrmann an Tag drei der Berufungsverhandlung eines mutmaßlichen Unruhestifters aus der Rottweiler Altstadt. Übelst beleidigt, bedroht, bespuckt worden sei er dort. Habe Ekel empfunden. Alles anlasslos und für ihn unverständlich. Der Feuerwehrmann spricht damit auch anderen Einsatzkräften aus der Seele – es ist ihnen der einzige bekannte Einsatzort, an dem man als Feuerwehrmann nicht willkommen ist. Nachbarn wünschen sich dort, dass die Ruhe, die in der Altstadt aktuell herrscht, anhalten könnte. Fest steht allerdings, dass der Mann, dem die andauernde Unruhestifterei vorgeworfen wird, krank ist. „Dass Sie eine psychische Erkrankung haben, liegt nahe“, erklärte ihm freundlich der Richter am Donnerstag. Es geht in dem Prozess daher auch um die Frage, ob er verantwortlich ist für seine Taten, ob er schuldfähig ist. Das Amtsgericht hatte das vergangenes Jahr noch bejaht und Y. zu einer Haftstrafe verurteilt, gegen die er sich nun wehrt.

Seit „das Rumpelstilzchen“, wie sie den Mann nennt, im Gefängnis ist, sei es ruhig geworden in der Rottweiler Altstadt. „Fast schon zu ruhig, fast schon langweilig“, fügt eine Frau bei einem Gespräch mit dem NRWZ-Reporter am Rande der Verhandlung lachend hinzu. Sie meint das ironisch: In den folgenden Minuten erzählt sie von den Taten des 52-Jährigen aus ihrer Sicht – Grabschändungen, Beleidigungen, Polizei- und Feuerwehreinsätze immerzu. Man habe ihn ständig, meist abends, auf seinem Grundstück und dem benachbarten Friedhof hin- und herlaufen sehen, wusste, dass gleich wieder etwas passiert. Die Frau, eine Nachbarin des 52-Jährigen, möchte an diesem Donnerstag dem Prozessverlauf einmal selbst beiwohnen. Sie erzählt, Y. beim abendlichen Spaziergang schon über den Friedhof tanzen gesehen zu haben. „Als er uns erkannte, drehte er uns den Rücken zu, zog die Hose herunter und zeigte uns seinen nackten Hintern.“ Verbale Ausfälle und Übergriffe seien oft vorgekommen. Und als sie eines Abends Gästen am Esstisch erzählt habe, was auf dem Nachbargrundstück alles so geschehen würde, hätten diese ihr kaum geglaubt. Kurz später kam dann der erste Feuerwehreinsatz dort. Insgesamt sei es an jenem Abend bis gegen 0 Uhr zu drei Einsätzen gekommen. Da hätten die Gäste ihr geglaubt. Und nachdem sie weg waren, sei Einsatz vier angelaufen. In einer einzigen Nacht.

Nun ist in der Altstadt aber seit Monaten Ruhe, seit September sitzt der Mann in der JVA Villingen-Schwenningen. Für viele ist der zeitliche Zusammenhang kein Zufall. Eines aber blieb: Der Friedhof in der Rottweiler Altstadt ist seit langem kameraüberwacht. Sehr zum Leidwesen mancher. „Es ist beklemmend, auf dem Friedhof von Kameras beobachtet zu werden“, sagt die Nachbarin. Ein Friedhof sei doch ein Ort der Stille und Besinnung, an dem man für sich trauern wolle. Nicht unter ständiger Beobachtung.

Das Gericht versucht an diesem Donnerstagmorgen erneut, Y. zu seiner Lebensgeschichte zu befragen. Er lehnt das wiederum ab, „solange die Presse im Saal ist“. Da das in Deutschland in öffentlichen Verfahren so üblich ist, kann ihm der Richter da nicht helfen. Also kommen psychiatrische und ärztliche Gutachten aus den vergangenen Jahren ab 2010 zur Verlesung – sehr zu Y.s Verdruss. So weiß man jetzt öffentlich: Die Ärzte diagnostizierten unter anderem wiederholt eine schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung, eine erheblich verminderte Frustrationstoleranz, eine Störung der Impulskontrolle, Anzeichen einer Depression, zudem Adipositas und eine prekäre finanzielle Situation. Y. benötige eine spezialisierte Behandlung. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, in einem normalen Job, könne der Mann nicht mehr als drei Stunden am Tag durchhalten, urteilte ein Gutachter, vielleicht in der IT – wobei ein anderer Gutachter „weitere Gefährdung“ Dritter gegeben sah. Bei keinem seiner Versuche, beruflich Fuß zu fassen, hielt Y. allerdings lange durch. Teils rasselte er, flapsig ausgedrückt, mit Mitarbeitenden zusammen, weshalb die Maßnahme, auch Umschulungen unter psychiatrischer Begleitung, jeweils abgebrochen wurde. Eines Tages festigte er sich, arbeitete fünf Jahre als Krankenpfleger in der Psychiatrie. 2003 stirbt der Vater, 2010 wird die Mutter bettlägerig, wird zum Pflegefall. Sie stirbt mit 89 Jahren, Y. behauptet bis heute, dass sie umgebracht wurde, „zu Tode gespritzt in der Klinik in Rottweil“. Mit Verweis auf das hohe Alter der Frau lässt der Richter am Landgericht hier Zweifel erkennen.

Stichwort: Bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung finden sich ein tiefgreifendes Muster von Großartigkeit (in Fantasie oder Verhalten), ein durchgehendes Bedürfnis nach Bewunderung und ein Mangel an Einfühlungsvermögen in andere. Personen mit dieser Störung legen ein übertriebenes Selbstwertgefühl an den Tag. Eigene Leistungen und Fähigkeiten werden überbetont und überbewertet.

Quelle: Median Kliniken

Als Kind war der Mann in den Augen des Vaters ein Versager. Dieser habe die Mutter und die Kinder verprügelt, sei aggressiv gewesen. Y. war der Jüngste von dreien. Ihm soll der Vater gelegentlich den Tod gewünscht haben. Er sei das ungewollte Kind, das aus einem „Unfall“ hervorgegangen sei.

Für Y. sieht es in dem laufenden Verfahren weiterhin schlecht aus. Zwar streitet er eine Vielzahl der ihm vorgeworfenen Taten rundheraus ab, dagegen steht aber eine hohe Zahl an Zeugen, die ihn der Beleidigungen und der Bedrohungen bezichtigen. Der Strafrichter nimmt sich im Prozess die Zeit, gibt sich geduldig Mühe, Y. seine Situation deutlich zu machen. Y. wiederum lässt die Diskussion im Kreise drehen. Macht der Richter ihm gerade klar, dass er nicht einfach Menschen beleidigen könne, auch wenn er glaube, die hätten ihn provoziert, kontert Y. damit, dass man seine Mutter umgebracht habe und die Staatsanwaltschaft nichts unternehme. Das wiederum weist der Richter zurück. Y. müsse es hinnehmen, wenn die Ermittlungsbehörde keine Strafbarkeit sehe, wenn sie kein Verfahren einleite. Aber das verfängt bei Y. nicht. Er ist das Opfer.

Zudem: „Ich habe die Herrschaft über mich selbst verloren, ich war wie in Trance, ich habe keine Steuerungsfähigkeit mehr gehabt“, so ließ sich Y. gegenüber dem psychiatrischen Gutachter ein. Er verfasste in der JVA einen mehrseitigen handgeschriebenen Brief. Er habe unter dem Einfluss starker Medikamente gestanden, als es über Monate und Jahre hinweg zu den Ereignissen rund um sein Haus kam, steht darin, wie der Psychiater zitierte. Dagegen wirkte Y. damals auf Einsatzkräfte allerdings sortiert, als wisse er ganz genau, was er tat, etwa, wen er gerade vor sich hatte, wen er da beleidigte, samt den richtigen Namen, mit denen er die Leute ansprach. Von „ganz bewusstem Handeln“, sprach einer der immer wieder dort eingesetzten Feuerwehrleute. Ein weiterer: „Es ist Standard gewesen, sobald man dort auftaucht, ist man Ar…, Wi…, Drecksau.“

Einsatzkräfte seien wiederholt „massivst beleidigt, bedroht und bespuckt worden“ – so schildert ein Rottweiler Feuerwehrmann seine Begegnungen mit Y. „Verlassen Sie sofort meinen Hof, betreten Sie nicht mein Grundstück“, habe der Mann gerufen – da stand das Löschfahrzeug mit dem Rad vorne links auf dem Grundstück des 52-Jährigen. Er habe reihum den Mittelfinger gezeigt, habe die Einsatzkräfte bedroht, er haue alle um. „Ich bin von ihm bespuckt und angegangen worden“, so der Feuerwehrmann. „Urplötzlich“ – was Y. im Gerichtssaal jetzt mit einem Kopfschütteln quittiert. Das Anspucken habe bei ihm starken Ekel ausgelöst, den Wunsch, sich sofort auszuziehen und zu waschen. Immerhin tue es ihm „heute aufrichtig leid“, dass er ihn bespuckt habe, antwortet Y. Er bittet den Feuerwehrmann um Entschuldigung, fragt, ob er diese annehme. Das verweigerte der einst Angespuckte. Die Rottweiler Feuerwehr war nach eigenen Zählungen in einem Zeitraum von drei Jahren 120 Mal rund um Y.s Haus in der Altstadt im Einsatz. Manche haben ganz offensichtlich die Nase gestrichen voll von Y.

Ein wenig aber bewegt sich in der Berufungsverhandlung doch: Weil es den Feuerwehrleuten, die am Donnerstag aussagten, nicht dauerhaft schlecht geworden ist, nachdem Y. sie ihren Angaben zufolge angespuckt hatte, fällt der vom Amtsgericht noch festgestellte Tatbestand der Körperverletzung weg. Spucken ist dann nur eine Form der Beleidigung. Knapp hundert Tatvorwürfe minus zwei, das ist immerhin etwas. Dafür gibt es auch echte Beweise, etwa eine Bodycam-Aufnahme eines Polizisten, die zeigt, wie Y. Feuerwehrleute während eines laufenden Einsatzes bespuckt. Wie er herumtänzelt. Wie er, man kann es nicht anders sagen, spinnt.

Der Moment des größten Unsinns in der Verhandlung: Der Vorsitzende Richter musste Y. tatsächlich einmal in Ruhe erklären, dass er es zu dulden habe, wenn ein Feuerwehrmann im Einsatzfall eine Gießkanne mit Wasser schnappe, die auf seinem Grundstück steht, um einen Brand auf einem Nachbargrundstück zu löschen. Man hört Menschen im Saal Luft schnappen, sieht sie den Kopf schütteln, als Y. sich einlässt, das leider nicht gewusst zu haben. Dass er sich dann ja nicht dagegen gewehrt hätte, nicht handgreiflich und beleidigend geworden wäre. Man kann festhalten, dass Dinge, die andere Leute für vollkommen selbstverständlich halten, in Y. Welt nicht ganz so klar sind.

Am Rande bemerkt: Die Post und die langen Brieflaufzeiten machen dem Landgericht Rottweil aktuell Probleme. So werden Zeugenladungen spät, teils zu spät, zugestellt. Das führt dazu, dass der eine Zeuge nur einen Tag vor der Verhandlung erfährt, dass er geladen ist, und andere Zeugen gar nicht erscheinen, weil sie nichts von ihrem Glück wissen. Es sei ärgerlich, aber man könne nichts machen, ließ der Vorsitzende Richter am Landgericht wissen.

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Peter Arnegger (gg)

… ist seit gut 25 Jahren Journalist. Seine Anfänge hatte er bei der Redaktion der “Schwäbischen Zeitung” in Rottweil, beim Schwäbischen Verlag in Leutkirch volontierte er. Nach einem Engagement bei der zu diesem Verlag gehörenden Aalener Volkszeitung wechselte Arnegger zur PC Welt nach München, einem auf Computer-Hard- und -Software spezialisierten Magazin. Es folgten Tätigkeiten in PR und Webentwicklung.2004, wieder in seiner Heimat angekommen, half Arnegger mit, die NRWZ aus der Taufe zu heben. Zunächst war er deren Chefredakteur, und ist zwischenzeitlich Geschäftsführer der NRWZ Verwaltungs GmbH – und als solcher der verantwortliche Journalist der NRWZ.Peter Arnegger ist 1968 in Oberndorf / Neckar geboren worden.

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