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    Den Mann erstochen? Im Vollrausch?

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    Blond und mit Brille. So sitzt die 54-Jährige im Gerichtssaal. Auf der Anklagebank – denn sie soll ihren Mann getötet haben. Mit einem Messer, mit sechs Messerstichen, nach einem heftigen Streit. Der Prozess gegen sie hat begonnen. Eine überaus zähe Veranstaltung. Denn die Frau ist bei aller Gesprächigkeit nur eingeschränkt zur Aussage bereit, antwortet ausweichend und aalglatt.

    (Rottweil/Schramberg). Natalia G. stammt aus der ehemaligen Sowjetunion, sie wurde im 1969 geboren. Familienstand: verwitwet. Aus eigenem Antrieb? Am 12. Februar 2022 jedenfalls kam es in der Wohnung in Schramberg-Sulgen kurz vor 20 Uhr zum Streit zwischen ihr und ihrem Mann. So schildert es die Anklage. Er soll ihr ihren „erheblichen Alkoholkonsum“ vorgehalten haben, sie ihm, dass er sie schlage. So erklärt der Staatsanwalt, der die Frau wegen Totschlags hinter Gittern sehen möchte, die Ausgangslage. Gegen 21.30 Uhr spitzt sich der Streit demnach zu. Sie greift nach einem Küchenmesser, sticht sechsmal auf ihren Mann ein. Er flüchtet vor der Angreiferin noch aus der Küche und bricht am Sofa im Wohnzimmer zusammen. Und stirbt.

    „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Angeklagte aufgrund ihres erheblichen Alkoholkonsums im Zustand der Schuldunfähigkeit handelte.“ So sieht es die Staatsanwaltschaft, die Natalia G. wegen Totschlags angeklagt hat. Mehr zum Thema Schuldunfähigkeit etwa hier. Ein Schlupfloch soll das für Täter allerdings nicht sein. Das Strafgesetzbuch kennt einen eigenen Paragrafen für den vorsätzlichen oder fahrlässigen Vollrausch im Zusammenhang mit einer Straftat, nämlich § 323a. Dieser sieht einen Strafrahmen bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vor. Er will den Täter nicht wegen der im Rausch begangenen Tat bestrafen, sondern weil er sich so stark berauscht hat, dass dies zur Schuldunfähigkeit führte. Die Grenze zur Schuldunfähigkeit liegt bei immerhin 3,3 Promille.

    Ob sich die Tat so, wie von der Anklage geschildert, zugetragen hat? Ein Geständnis von Natalia G. liegt jedenfalls nicht vor, sie schweigt auch vor Gericht zu den Vorwürfen. Rekonstruiert haben den Ablauf Ermittler der Kriminalpolizei. Vor Gericht geht es nun seit diesem Montagmorgen darum, ob ihr das alles nachzuweisen ist.

    Ausführliche Angaben dazu, was sie sagen möchte

    Die Frau macht lediglich Angaben zu ihrer Person, zu ihrer Zeit in der ehemaligen Sowjetunion, in Irkutsk und Petersburg und Minsk und Moskau, etwa. Darüber spricht sie ausführlich, ruhig, selbstbewusst. Etwa über eine begonnene Ausbildung im Verwaltungsbereich. Über ein begonnenes Studium. Über einen vielversprechenden Karrierebeginn, einen Werdegang in Richtung einer leitenden Tätigkeit. „Während dieses Studiums habe ich geheiratet, habe einen Sohn bekommen.“ Beides endet gleichzeitig: ihr Studium und die Sowjetunion. Die Karriere zunächst nicht. Ein zweiter Sohn wird geboren, der sein Gehör verliert, ein Jahr nach seiner Geburt. Ihrer Darstellung nach ein Wendepunkt. Der Junge gilt als schwerbehindert, als taub. „Die nächsten 16, 17 Jahre waren darauf ausgerichtet, dass mein Sohn eine gute Ausbildung bekommt“, lässt sie ihre Dolmetscherin aus dem Russischen übersetzen. Ihr Mann habe in dieser Zeit in einer Aluminiumfabrik gearbeitet. „Das war im August 2000.“ Die Frau erzählt das mit roten Wangen und einer Bestimmtheit, als wäre sie bei einem Vorstellungsgespräch für einen Job als Abteilungsleiterin. Die 54-Jährige zeichnet ein Bild einer ziel- und zukunftsorientierten Familie, für die ein gutes Gehalt und eine eigene Wohnung zählen. Leitende Positionen obendrein. Die Handschellen sind der Frau auf Geheiß des Vorsitzenden Richters der Strafkammer abgenommen worden.

    Zwei Ehen

    Wir erfahren: Das war die erste Ehe. „2014 haben mein Mann und ich zusammen beschlossen, dass wir uns trennen“, übersetzt die Dolmetscherin aus dem Russischen. „Und mein zweiter Mann und ich haben angefangen uns zu treffen.“ 2015 sei sie erstmals nach Deutschland gekommen, eine Fernbeziehung entsteht, die beiden haben sich drei Jahre zuvor an einem Strand in Ägypten kennengelernt. „Damals war ich noch schlank.“ Beide lassen sich von ihren früheren Partnern scheiden, die neuerliche Hochzeit findet auf dem Standesamt in Moskau statt. Sie pendelt zwischen den beiden Ländern, Corona zwingt sie nach ihren Angaben schließlich, endgültig zu bleiben. Nun führt sie nur noch der Urlaub nach Russland. „Er hat gearbeitet, ich war daheim. Was soll ich noch erzählen?“

    „Wie war das mit dem Alkoholkonsum?“

    Der Richter hakt nach, wie war denn die Wohnsituation in Deutschland, wie war das mit dem Alkoholkonsum? Die Übersetzung läuft ruhig und reibungslos ab. Mit 17, auf dem Abschlussball der Schule, habe sie das erste Mal „was probiert“. Dann bei Festen und Veranstaltungen. „Ich kann schon sagen, dass in der letzten Zeit der Konsum stärker war.“ Der Alkohol schleicht sich rein in die neue Familie, bietet sich als vermeintlicher Problemlöser an und als ständige Einschlafhilfe. Ob sie mehr und mehr trinkt, bleibt zunächst unklar. Während Natalia G. ihren beruflichen Werdegang flüssig schilderte, scheint sie Mühe zu haben, auf ihren Alkoholkonsum einzugehen. „Haben Sie regelmäßig Alkohol getrunken?“ „Was heißt regelmäßig?“ Der Richter reagiert genervt, wird laut. Sie weiche aus, wirft er ihr vor. Er will, dass sie einfach mal Stellung nimmt zu ihrem Trinkverhalten. Das tut sie nicht. Sie erzählt viel, aber nichts über die Trinkmenge. „Das kann ich nicht erinnern.“ Und so ganz allgemein hält sie – zum zunehmenden Ärger des Richters – fest, dass es in Russland üblich sei, Gäste zuhause zu empfangen.

    Der Bruch in der glänzenden Lebensgeschichte

    Natalia G. ist stark bemüht, das Bild einer erfolgreichen Frau mit vor allem zunächst erfolgreicher erster Ehe zum zeichnen. Ein russisch-bürgerliches Bild. Das einer anständigen Frau. Doch es gibt einen …

    Bruch. Den gewaltsamen Tod ihres Mannes nennt sie „das Unglück“. 1,88 Promille 1,88 Milligramm Alkohol  pro Liter Blut hat sie Stunden später intus gehabt, ermittelte die Polizei. 3,74 Promille ergab ein Atemalkoholtest gegen 0 Uhr. Was aber passiert ist, lässt sie im Dunkeln. Weder gegenüber der Polizei hat sie geredet, noch jetzt im Gerichtssaal. Ihr Mann habe Suizid begangen, begründete sie den Todesfall damals, kurz darauf, gegenüber Polizisten, Begründungen liefert sie bis heute nicht. Indizien brachten die ermittelnden Beamten darauf, dass hier möglicherweise ein Mord passiert ist. Ob Indizien die Frau nun auch belasten? Die beiden Töchter des Toten sitzen als Nebenklägerinnen im Gerichtssaal. In Schwarz gekleidet.

    Per Sie mit der Stieftochter

    Die beiden jungen Hinterbliebenen erleben mit, wie der Richter Natalia G. Angaben zu ihrem Privatleben mit dem zweiten Mann in Schramberg-Sulgen aus der Nase zieht. Viel Geld hatten sie nicht, „er war in seinem Budget begrenzt“, übersetzt die Dolmetscherin, einen Deutschkurs hätten sie sich nicht leisten können. Auch deshalb, aber auch, weil ihr zweiter Mann das nicht gewollt habe, hätte sie in Deutschland nicht gearbeitet (seine Ex-Frau war berufstätig). Die Alltagssprache: Russisch. Apropos Alltag: Dieser verläuft offenbar eintönig. „Ich habe mich mit Blumen und Pflanzen beschäftigt“, lässt sie vermelden. Und: „Ich war ein aktiver Teilnehmer einer Gruppe für gesunde Ernährung.“ Auch auf dem russischen Pendant zu Facebook sei sie aktiv gewesen. Natürlich habe sie zudem gekocht. Gerne. Probleme mit seiner Ex-Frau, Nachforderungen des Finanzamts und der Verlust des Kontaktes zu seinen Töchtern hätten dieses Idyll allerdings nachhaltig negativ beeinflusst, lässt sie eher unkonkret durchblicken.

    Die ältere Tochter des Getöteten, die sie ebenfalls befragt, siezt Natalia G. Auch ihr antwortet die Frau wortreich, aber ausweichend, nur vermeintlich konkret. Immerhin, die Töchter können wieder lachen, zeigt sich später in einer Prozesspause.

    „Eine Flasche war genug, aber es konnten auch zwei sein.“ Nach bohrendem Nachfragen des Richters lässt Natalia G. sich auf ungefähre Angaben zum Alkoholkonsum in der kleinen Wohnung mit den Blumen am Balkon in Schramberg-Sulgen ein. „Das, was auf dem Tisch stand, haben wir getrunken“, lässt die Frau wissen. Beziehungsweise: „Wir haben nicht unbedingt die ganze Flasche getrunken.“ Juristisch belastbar ist all das nicht.

    Auf ein Neues: Wie war ihr Alkoholkonsum?

    „Schildern Sie doch mal den Alkoholkonsum 2022.“ Der psychiatrische Sachverständige möchte es doch auch gerne wissen, was Natalia G. vor der Tat so getrunken hat. Sie erklärt in der direkten Antwort, dass sie Schilddrüsenprobleme habe und Knieschmerzen. Zudem aber habe sie sich auch mit gesunder Ernährung beschäftigt – und mit Alkoholverzicht. Zu trinken sei nach einem Online-Gesundheitsplan nur alle drei Monate beim gemeinsamen Grillen erlaubt.

    Ein Auszug aus der Befragung vor Gericht, ein Dialog zwischen dem Psychiater und der Angeklagten. „Wie viel haben Sie denn im Januar und Februar 2022 getrunken?“ „Wir haben aktiv Weihnachten gefeiert und Neujahr. Bis zum 13. Januar nach dem russischen Kalender.“ „Haben Sie jeden Tag getrunken, jeden Tag ein, zwei Flaschen Wein?“ „Das ist ein großes Essen mit leckeren Gerichten …“ „Entschuldigung, was haben Sie getrunken?“ „Verschiedene Getränke, härtere Sachen, aber auch leichtere Sachen wie Tafelwein und Cocktails. Andere Getränke, das ist Cognac und Tequila. Mein Mann hat eher Whisky getrunken.“ „Haben Sie täglich getrunken?“ „Wahrscheinlich nicht, täglich, das ist ja schwierig, ich bin schon nicht mehr ganz jung, starke Getränke, das führt ja gern zu Kopfweh …“

    Der Psychiater versucht es aus einer anderen Richtung. In der Justizvollzugsanstalt habe man bei einer Untersuchung nach ihrer Inhaftierung Leberwerte ermittelt, die teils ums tausendfache über dem Normwert gelegen hätten, sagt er. Und nochmal die Frage: „Wie war der Alkoholkonsum im Januar und Februar 2022?“ Antwort: „Das, was ich gesagt habe, so war das.“ Später wird sie noch etwas konkreter: „Wir haben rund um die Uhr gefeiert und gegessen“, jedenfalls vor dem 13. Januar. Dadurch und durch ihre Schilddrüsenerkrankung habe sie viel zugenommen. Und sie habe „gelbe chinesische Tabletten zum Abnehmen“ genommen, was in Russland üblich sei. Und dann und wann Ibuprofen und Paracetamol. Die Befragung der Frau durch alle Prozessbeteiligten zieht sich über mehrere Stunden. Wir erfahren auch: „Um mich wirklich aus der Fassung zu bringen, muss sehr viel passieren.“ Sie schafft es in einer späteren Phase des ersten Prozesstages auch, damit zu kokettieren, dass sie gerne und gut singe und tanze, dass sie Gedichte verfasse, Geschichten.

    Grund für Streit? Das bleibt unbeantwortet

    War die prekäre finanzielle Situation mit nur einem Gehalt und unterhaltspflichtigen Kindern sowie den entsprechenden Forderungen möglicherweise Anlass oder Ausgangspunkt für Ärger in der Ehe mit ihrem zweiten Mann? Das will der Richter wissen. Ein weiterer Wurm, den er Natalia G. aus der Nase ziehen will. Recht erfolglos. „Für ihn war es ein ganz großes Trauma, dass sich die Kinder von ihm abgewandt haben“, sagt Natalia G. über ihren inzwischen verstorbenen Mann. Was sie da erzählt, können die beiden Töchter kaum fassen. Mit Kopfschütteln kommentieren sie die Aussagen.

    Mehr ist aus der Frau nicht herauszubekommen. Auch ihr (russischsprachiger) Anwalt fährt Natalia G. immer ihr wieder in die Parade, wenn sie anscheinend entgegen einer Absprache antworten möchte, eine von seiner Prozessstrategie bestimmte Grenze zu übertreten droht oder sich aus seiner Sicht schaden könnte. Die Prozessbeteiligten ertragen das mit Geduld. Rechtmäßig ist es allemal. Wenn auch für Zuhörer nahezu unerträglich aalglatt.

    „Halluzinationen“ nicht relevant

    Und doch: Nach dreieinhalb Stunden fällt das Wort „Halluzinationen“. Es gebe ein Wesen aus einer anderen Welt, erzählt Natalia G. auf Nachfrage ihres Verteidigers. „Nach dem Ereignis“ sei es aufgetaucht. Ein „Er“, der ihr etwa eine PIN zu einer EC-Karte habe nennen können. Offenbar ihr verstorbener Mann. Er habe ihr gesagt, wie er zu beerdigen sei. „Verbrenn’ mich, und streu’ die Asche über dem Kaspischen Meer aus.“ Hier beginnt Natalia G. zu weinen, sie schnieft vernehmlich. Minutenlang spricht sie über weitere Erscheinungen ihres toten Ehemanns. „Wir entfernen uns meilenweit von dem Vorwurf, dass die Angeklagte ihren Mann erstochen haben soll“, unterbrach der Vorsitzende Richter den Monolog. Er vermöge den Zusammenhang nicht zu erkennen. „In der Sache bringt uns das nicht weiter, der Vorwurf ist Totschlag.“ Nachhallerinnerungen seien aus momentaner Sicht nicht relevant.

    Eine Aussage einer Freundin der Eheleute ergibt: Nachts um 11 hat Natalia G. ihr eine Sprachnachricht geschickt, „da geht es darum, dass er nicht mehr ist“. Der Mann habe sich erstochen, habe sich „dreimal mit dem Messer gestochen“, nach einem Brief, den er erhalten habe. Sie habe daraufhin die Polizei gerufen, so die Freundin.

    Was es mit dem Brief auf sich hat, ist noch unklar.

     

    Polizeibeamte sowie eine Rechtsmedizinerin und eine Sachverständige zur Blutspurenmusteranalyse sollen nun für den Prozess die Abläufe in der Todesnacht aufdecken. Die Obduktion des 54-jährigen Opfers und umfangreiche Ermittlungen der Kriminalpolizei Rottweil hätten seinerzeit zur Festnahme der dringend tatverdächtigen Ehefrau geführt, hieß es im Vorfeld der auf fünf Prozesstage angesetzten Hauptverhandlung.

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    Peter Arnegger (gg)
    Peter Arnegger (gg)
    … ist seit gut 25 Jahren Journalist. Seine Anfänge hatte er bei der Redaktion der “Schwäbischen Zeitung” in Rottweil, beim Schwäbischen Verlag in Leutkirch volontierte er. Nach einem Engagement bei der zu diesem Verlag gehörenden Aalener Volkszeitung wechselte Arnegger zur PC Welt nach München, einem auf Computer-Hard- und -Software spezialisierten Magazin. Es folgten Tätigkeiten in PR und Webentwicklung.2004, wieder in seiner Heimat angekommen, half Arnegger mit, die NRWZ aus der Taufe zu heben. Zunächst war er deren Chefredakteur, und ist zwischenzeitlich Geschäftsführer der NRWZ Verwaltungs GmbH – und als solcher der verantwortliche Journalist der NRWZ.Peter Arnegger ist 1968 in Oberndorf / Neckar geboren worden.

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    Blond und mit Brille. So sitzt die 54-Jährige im Gerichtssaal. Auf der Anklagebank – denn sie soll ihren Mann getötet haben. Mit einem Messer, mit sechs Messerstichen, nach einem heftigen Streit. Der Prozess gegen sie hat begonnen. Eine überaus zähe Veranstaltung. Denn die Frau ist bei aller Gesprächigkeit nur eingeschränkt zur Aussage bereit, antwortet ausweichend und aalglatt.

    (Rottweil/Schramberg). Natalia G. stammt aus der ehemaligen Sowjetunion, sie wurde im 1969 geboren. Familienstand: verwitwet. Aus eigenem Antrieb? Am 12. Februar 2022 jedenfalls kam es in der Wohnung in Schramberg-Sulgen kurz vor 20 Uhr zum Streit zwischen ihr und ihrem Mann. So schildert es die Anklage. Er soll ihr ihren „erheblichen Alkoholkonsum“ vorgehalten haben, sie ihm, dass er sie schlage. So erklärt der Staatsanwalt, der die Frau wegen Totschlags hinter Gittern sehen möchte, die Ausgangslage. Gegen 21.30 Uhr spitzt sich der Streit demnach zu. Sie greift nach einem Küchenmesser, sticht sechsmal auf ihren Mann ein. Er flüchtet vor der Angreiferin noch aus der Küche und bricht am Sofa im Wohnzimmer zusammen. Und stirbt.

    „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Angeklagte aufgrund ihres erheblichen Alkoholkonsums im Zustand der Schuldunfähigkeit handelte.“ So sieht es die Staatsanwaltschaft, die Natalia G. wegen Totschlags angeklagt hat. Mehr zum Thema Schuldunfähigkeit etwa hier. Ein Schlupfloch soll das für Täter allerdings nicht sein. Das Strafgesetzbuch kennt einen eigenen Paragrafen für den vorsätzlichen oder fahrlässigen Vollrausch im Zusammenhang mit einer Straftat, nämlich § 323a. Dieser sieht einen Strafrahmen bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vor. Er will den Täter nicht wegen der im Rausch begangenen Tat bestrafen, sondern weil er sich so stark berauscht hat, dass dies zur Schuldunfähigkeit führte. Die Grenze zur Schuldunfähigkeit liegt bei immerhin 3,3 Promille.

    Ob sich die Tat so, wie von der Anklage geschildert, zugetragen hat? Ein Geständnis von Natalia G. liegt jedenfalls nicht vor, sie schweigt auch vor Gericht zu den Vorwürfen. Rekonstruiert haben den Ablauf Ermittler der Kriminalpolizei. Vor Gericht geht es nun seit diesem Montagmorgen darum, ob ihr das alles nachzuweisen ist.

    Ausführliche Angaben dazu, was sie sagen möchte

    Die Frau macht lediglich Angaben zu ihrer Person, zu ihrer Zeit in der ehemaligen Sowjetunion, in Irkutsk und Petersburg und Minsk und Moskau, etwa. Darüber spricht sie ausführlich, ruhig, selbstbewusst. Etwa über eine begonnene Ausbildung im Verwaltungsbereich. Über ein begonnenes Studium. Über einen vielversprechenden Karrierebeginn, einen Werdegang in Richtung einer leitenden Tätigkeit. „Während dieses Studiums habe ich geheiratet, habe einen Sohn bekommen.“ Beides endet gleichzeitig: ihr Studium und die Sowjetunion. Die Karriere zunächst nicht. Ein zweiter Sohn wird geboren, der sein Gehör verliert, ein Jahr nach seiner Geburt. Ihrer Darstellung nach ein Wendepunkt. Der Junge gilt als schwerbehindert, als taub. „Die nächsten 16, 17 Jahre waren darauf ausgerichtet, dass mein Sohn eine gute Ausbildung bekommt“, lässt sie ihre Dolmetscherin aus dem Russischen übersetzen. Ihr Mann habe in dieser Zeit in einer Aluminiumfabrik gearbeitet. „Das war im August 2000.“ Die Frau erzählt das mit roten Wangen und einer Bestimmtheit, als wäre sie bei einem Vorstellungsgespräch für einen Job als Abteilungsleiterin. Die 54-Jährige zeichnet ein Bild einer ziel- und zukunftsorientierten Familie, für die ein gutes Gehalt und eine eigene Wohnung zählen. Leitende Positionen obendrein. Die Handschellen sind der Frau auf Geheiß des Vorsitzenden Richters der Strafkammer abgenommen worden.

    Zwei Ehen

    Wir erfahren: Das war die erste Ehe. „2014 haben mein Mann und ich zusammen beschlossen, dass wir uns trennen“, übersetzt die Dolmetscherin aus dem Russischen. „Und mein zweiter Mann und ich haben angefangen uns zu treffen.“ 2015 sei sie erstmals nach Deutschland gekommen, eine Fernbeziehung entsteht, die beiden haben sich drei Jahre zuvor an einem Strand in Ägypten kennengelernt. „Damals war ich noch schlank.“ Beide lassen sich von ihren früheren Partnern scheiden, die neuerliche Hochzeit findet auf dem Standesamt in Moskau statt. Sie pendelt zwischen den beiden Ländern, Corona zwingt sie nach ihren Angaben schließlich, endgültig zu bleiben. Nun führt sie nur noch der Urlaub nach Russland. „Er hat gearbeitet, ich war daheim. Was soll ich noch erzählen?“

    „Wie war das mit dem Alkoholkonsum?“

    Der Richter hakt nach, wie war denn die Wohnsituation in Deutschland, wie war das mit dem Alkoholkonsum? Die Übersetzung läuft ruhig und reibungslos ab. Mit 17, auf dem Abschlussball der Schule, habe sie das erste Mal „was probiert“. Dann bei Festen und Veranstaltungen. „Ich kann schon sagen, dass in der letzten Zeit der Konsum stärker war.“ Der Alkohol schleicht sich rein in die neue Familie, bietet sich als vermeintlicher Problemlöser an und als ständige Einschlafhilfe. Ob sie mehr und mehr trinkt, bleibt zunächst unklar. Während Natalia G. ihren beruflichen Werdegang flüssig schilderte, scheint sie Mühe zu haben, auf ihren Alkoholkonsum einzugehen. „Haben Sie regelmäßig Alkohol getrunken?“ „Was heißt regelmäßig?“ Der Richter reagiert genervt, wird laut. Sie weiche aus, wirft er ihr vor. Er will, dass sie einfach mal Stellung nimmt zu ihrem Trinkverhalten. Das tut sie nicht. Sie erzählt viel, aber nichts über die Trinkmenge. „Das kann ich nicht erinnern.“ Und so ganz allgemein hält sie – zum zunehmenden Ärger des Richters – fest, dass es in Russland üblich sei, Gäste zuhause zu empfangen.

    Der Bruch in der glänzenden Lebensgeschichte

    Natalia G. ist stark bemüht, das Bild einer erfolgreichen Frau mit vor allem zunächst erfolgreicher erster Ehe zum zeichnen. Ein russisch-bürgerliches Bild. Das einer anständigen Frau. Doch es gibt einen …

    Bruch. Den gewaltsamen Tod ihres Mannes nennt sie „das Unglück“. 1,88 Promille 1,88 Milligramm Alkohol  pro Liter Blut hat sie Stunden später intus gehabt, ermittelte die Polizei. 3,74 Promille ergab ein Atemalkoholtest gegen 0 Uhr. Was aber passiert ist, lässt sie im Dunkeln. Weder gegenüber der Polizei hat sie geredet, noch jetzt im Gerichtssaal. Ihr Mann habe Suizid begangen, begründete sie den Todesfall damals, kurz darauf, gegenüber Polizisten, Begründungen liefert sie bis heute nicht. Indizien brachten die ermittelnden Beamten darauf, dass hier möglicherweise ein Mord passiert ist. Ob Indizien die Frau nun auch belasten? Die beiden Töchter des Toten sitzen als Nebenklägerinnen im Gerichtssaal. In Schwarz gekleidet.

    Per Sie mit der Stieftochter

    Die beiden jungen Hinterbliebenen erleben mit, wie der Richter Natalia G. Angaben zu ihrem Privatleben mit dem zweiten Mann in Schramberg-Sulgen aus der Nase zieht. Viel Geld hatten sie nicht, „er war in seinem Budget begrenzt“, übersetzt die Dolmetscherin, einen Deutschkurs hätten sie sich nicht leisten können. Auch deshalb, aber auch, weil ihr zweiter Mann das nicht gewollt habe, hätte sie in Deutschland nicht gearbeitet (seine Ex-Frau war berufstätig). Die Alltagssprache: Russisch. Apropos Alltag: Dieser verläuft offenbar eintönig. „Ich habe mich mit Blumen und Pflanzen beschäftigt“, lässt sie vermelden. Und: „Ich war ein aktiver Teilnehmer einer Gruppe für gesunde Ernährung.“ Auch auf dem russischen Pendant zu Facebook sei sie aktiv gewesen. Natürlich habe sie zudem gekocht. Gerne. Probleme mit seiner Ex-Frau, Nachforderungen des Finanzamts und der Verlust des Kontaktes zu seinen Töchtern hätten dieses Idyll allerdings nachhaltig negativ beeinflusst, lässt sie eher unkonkret durchblicken.

    Die ältere Tochter des Getöteten, die sie ebenfalls befragt, siezt Natalia G. Auch ihr antwortet die Frau wortreich, aber ausweichend, nur vermeintlich konkret. Immerhin, die Töchter können wieder lachen, zeigt sich später in einer Prozesspause.

    „Eine Flasche war genug, aber es konnten auch zwei sein.“ Nach bohrendem Nachfragen des Richters lässt Natalia G. sich auf ungefähre Angaben zum Alkoholkonsum in der kleinen Wohnung mit den Blumen am Balkon in Schramberg-Sulgen ein. „Das, was auf dem Tisch stand, haben wir getrunken“, lässt die Frau wissen. Beziehungsweise: „Wir haben nicht unbedingt die ganze Flasche getrunken.“ Juristisch belastbar ist all das nicht.

    Auf ein Neues: Wie war ihr Alkoholkonsum?

    „Schildern Sie doch mal den Alkoholkonsum 2022.“ Der psychiatrische Sachverständige möchte es doch auch gerne wissen, was Natalia G. vor der Tat so getrunken hat. Sie erklärt in der direkten Antwort, dass sie Schilddrüsenprobleme habe und Knieschmerzen. Zudem aber habe sie sich auch mit gesunder Ernährung beschäftigt – und mit Alkoholverzicht. Zu trinken sei nach einem Online-Gesundheitsplan nur alle drei Monate beim gemeinsamen Grillen erlaubt.

    Ein Auszug aus der Befragung vor Gericht, ein Dialog zwischen dem Psychiater und der Angeklagten. „Wie viel haben Sie denn im Januar und Februar 2022 getrunken?“ „Wir haben aktiv Weihnachten gefeiert und Neujahr. Bis zum 13. Januar nach dem russischen Kalender.“ „Haben Sie jeden Tag getrunken, jeden Tag ein, zwei Flaschen Wein?“ „Das ist ein großes Essen mit leckeren Gerichten …“ „Entschuldigung, was haben Sie getrunken?“ „Verschiedene Getränke, härtere Sachen, aber auch leichtere Sachen wie Tafelwein und Cocktails. Andere Getränke, das ist Cognac und Tequila. Mein Mann hat eher Whisky getrunken.“ „Haben Sie täglich getrunken?“ „Wahrscheinlich nicht, täglich, das ist ja schwierig, ich bin schon nicht mehr ganz jung, starke Getränke, das führt ja gern zu Kopfweh …“

    Der Psychiater versucht es aus einer anderen Richtung. In der Justizvollzugsanstalt habe man bei einer Untersuchung nach ihrer Inhaftierung Leberwerte ermittelt, die teils ums tausendfache über dem Normwert gelegen hätten, sagt er. Und nochmal die Frage: „Wie war der Alkoholkonsum im Januar und Februar 2022?“ Antwort: „Das, was ich gesagt habe, so war das.“ Später wird sie noch etwas konkreter: „Wir haben rund um die Uhr gefeiert und gegessen“, jedenfalls vor dem 13. Januar. Dadurch und durch ihre Schilddrüsenerkrankung habe sie viel zugenommen. Und sie habe „gelbe chinesische Tabletten zum Abnehmen“ genommen, was in Russland üblich sei. Und dann und wann Ibuprofen und Paracetamol. Die Befragung der Frau durch alle Prozessbeteiligten zieht sich über mehrere Stunden. Wir erfahren auch: „Um mich wirklich aus der Fassung zu bringen, muss sehr viel passieren.“ Sie schafft es in einer späteren Phase des ersten Prozesstages auch, damit zu kokettieren, dass sie gerne und gut singe und tanze, dass sie Gedichte verfasse, Geschichten.

    Grund für Streit? Das bleibt unbeantwortet

    War die prekäre finanzielle Situation mit nur einem Gehalt und unterhaltspflichtigen Kindern sowie den entsprechenden Forderungen möglicherweise Anlass oder Ausgangspunkt für Ärger in der Ehe mit ihrem zweiten Mann? Das will der Richter wissen. Ein weiterer Wurm, den er Natalia G. aus der Nase ziehen will. Recht erfolglos. „Für ihn war es ein ganz großes Trauma, dass sich die Kinder von ihm abgewandt haben“, sagt Natalia G. über ihren inzwischen verstorbenen Mann. Was sie da erzählt, können die beiden Töchter kaum fassen. Mit Kopfschütteln kommentieren sie die Aussagen.

    Mehr ist aus der Frau nicht herauszubekommen. Auch ihr (russischsprachiger) Anwalt fährt Natalia G. immer ihr wieder in die Parade, wenn sie anscheinend entgegen einer Absprache antworten möchte, eine von seiner Prozessstrategie bestimmte Grenze zu übertreten droht oder sich aus seiner Sicht schaden könnte. Die Prozessbeteiligten ertragen das mit Geduld. Rechtmäßig ist es allemal. Wenn auch für Zuhörer nahezu unerträglich aalglatt.

    „Halluzinationen“ nicht relevant

    Und doch: Nach dreieinhalb Stunden fällt das Wort „Halluzinationen“. Es gebe ein Wesen aus einer anderen Welt, erzählt Natalia G. auf Nachfrage ihres Verteidigers. „Nach dem Ereignis“ sei es aufgetaucht. Ein „Er“, der ihr etwa eine PIN zu einer EC-Karte habe nennen können. Offenbar ihr verstorbener Mann. Er habe ihr gesagt, wie er zu beerdigen sei. „Verbrenn’ mich, und streu’ die Asche über dem Kaspischen Meer aus.“ Hier beginnt Natalia G. zu weinen, sie schnieft vernehmlich. Minutenlang spricht sie über weitere Erscheinungen ihres toten Ehemanns. „Wir entfernen uns meilenweit von dem Vorwurf, dass die Angeklagte ihren Mann erstochen haben soll“, unterbrach der Vorsitzende Richter den Monolog. Er vermöge den Zusammenhang nicht zu erkennen. „In der Sache bringt uns das nicht weiter, der Vorwurf ist Totschlag.“ Nachhallerinnerungen seien aus momentaner Sicht nicht relevant.

    Eine Aussage einer Freundin der Eheleute ergibt: Nachts um 11 hat Natalia G. ihr eine Sprachnachricht geschickt, „da geht es darum, dass er nicht mehr ist“. Der Mann habe sich erstochen, habe sich „dreimal mit dem Messer gestochen“, nach einem Brief, den er erhalten habe. Sie habe daraufhin die Polizei gerufen, so die Freundin.

    Was es mit dem Brief auf sich hat, ist noch unklar.

     

    Polizeibeamte sowie eine Rechtsmedizinerin und eine Sachverständige zur Blutspurenmusteranalyse sollen nun für den Prozess die Abläufe in der Todesnacht aufdecken. Die Obduktion des 54-jährigen Opfers und umfangreiche Ermittlungen der Kriminalpolizei Rottweil hätten seinerzeit zur Festnahme der dringend tatverdächtigen Ehefrau geführt, hieß es im Vorfeld der auf fünf Prozesstage angesetzten Hauptverhandlung.

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