Depressionen nehmen zu. Gerade in den vergangenen eineinhalb Jahren, während der Corona-Krise. Das bestätigen übereinstimmend auf Nachfrage der NRWZ Silke Kammerer von der Psychologische Familien- und Lebensberatung der Caritas in Rottweil, die Diplom-Psychologin Sofija Bergmann, Elke Rauls von der AOK Schwarzwald-Baar-Heuberg und der Chefarzt der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie II im Vinzenz von Paul-Hospital, Dr. Karsten Tschauner. Aus der Sicht dieser Institutionen und jener der Therapeutin wird die NRWZ das Thema in mehreren Beiträgen in einer kleinen Serie beleuchten. Heute: abschließend die Sicht der AOK-Sprecherin.
Wer an sich Verstimmungen, Traurigkeit, Angst, Reizbarkeit oder Ähnliches feststellt, der sollte zunächst zum Hausarzt gehen. Dazu rät Elke Rauls, Sprecherin der AOK Schwarzwald-Baar-Heuberg im Interview der NRWZ. Sie liefert zudem viele Zahlen zum Thema. Und nennt konkrete Anlaufstellen.
NRWZ: Können Sie eine Zunahme depressiver Symptome in den vergangenen eineinhalb Jahren bestätigen? Bitte nennen Sie Zahlen. Etwa in Bezug auf Akutbehandlungen und Anträge zum Beispiel für die erstmalige Therapie und deren mögliche Verlängerung.
Elke Rauls: Erstmals lagen die psychischen Leiden bei der Krankheitsdauer hinter den orthopädischen Diagnosen und ließen damit die Erkältungserkrankungen hinter sich. Betrachtet man die Zahlen auf Bundes-, Landes- und regionaler Ebene, ist die Erhöhung jedoch überschaubar. Eine Zunahme aufgrund der Belastungen der Corona-Pandemie lässt sich daraus nicht ablesen. Betrachtet man den Zeitverlauf der vorliegenden Zahlen, so lässt sich kein einheitliches Bild darstellen. Während in den Landkreisen Rottweil und Schwarzwald-Baar die Anzahl der Betroffenen leicht rückläufig sind, ergibt sich für den Landkreis Tuttlingen einen deutlichen Anstieg. Eine Anmerkung: Bei den Zahlen handelt es sich um Entwicklung der Diagnose Depression (Behandlungsprävalenz) AOK-Versicherter über die letzten fünf Jahre (Download).
Hier finden Sie die Entwicklung der AU-Tage/-Fälle mit Depression in den letzten Monaten adjustiert auf Krankengeld-berechtigte-Mitglieder. Diese scheint auch in der Pandemie im Trend relativ stabil:
Arbeitsunfähigkeit im Homeoffice: Hier sind im Tabellenblatt „Psychisch“ AU-Fälle aufgrund psychischer Erkrankungen dargestellt. Der Fokus der Analyse lag zwar auf einem Vergleich der im Homeoffice vs nicht-Homeoffice Tätigen, aber man erkennt in beiden Gruppen einen starken Abfall der AU-Meldungen zu Beginn der Pandemie (April). Die Kurve erholt sich allerdings bis Juli wieder auf Vorjahreswerte:
Unten ist die Entwicklung der stationären Aufnahmen und Entlassungen von Versicherten < 18 Jahren im Verlauf der letzten Monate dargestellt. Während den Coronawellen ist jeweils ein deutlicher Rückgang der Einweisungen und auch Entlassungen zu erkennen. Je nachdem, ob die Einrichtungen bereits an der Belastungsgrenze operieren, spiegelt diese Entwicklung allerdings eher das Angebot und nicht den Bedarf wider:
Betreffen die psychosozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise auf die einzelnen Menschen eine bestimmte Bevölkerungsschicht, eine bestimmte Altersgruppe? Genauer gesagt: Wer leidet besonders stark und wer ist in der Lage, die persönlichen Einschränkungen abzufedern?
Im Alter sind depressive Störungen die häufigste psychische Störung und gehen noch stärker als in jüngeren Altersgruppen mit einem erhöhten Suizidrisiko einher (Quelle: Dr. med. Dipl.-Psych. Alexandra Isaksson, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie bei der AOK Baden-Württemberg). Die Gründe, an Altersdepressionen zu erkranken, sind vielfältig. Laut einer landesweiten Forsa-Befragung vom Oktober 2020, sorgen sich Frauen vor allem um Pflegebedürftigkeit (67 Prozent), gefolgt vom Verlust von Familienmitgliedern oder Freunden (64 Prozent) und gesundheitlichen Problemen im Alter (58 Prozent) sowie der Altersarmut (39 Prozent). Für Männer stehen die gesundheitlichen Probleme im Vordergrund (68 Prozent), gefolgt von Pflegebedürftigkeit (63 Prozent) und der Angst vor dem Verlust von Familienmitgliedern oder Freunden (60 Prozent). Nur rund ein Viertel der Männer sorgt sich um Altersarmut. Besonders gefährdet, an einer Depression zu erkranken, sind Frauen sowie Menschen ohne vertrauensvolle persönliche Beziehungen und Bewohner von Pflegeheimen.
Abgrenzen von der Depression muss man eine depressive Verstimmung. Das sind zeitlich begrenzte Stimmungstiefs, wie sie gerade ältere Menschen häufiger einmal haben. Doch die Grenzen sind fließend: Eine depressive Verstimmung kann sich zu einer Depression ausweiten. Genau wie der Zustand großer Erschöpfung („Burn-out“), wie ihn pflegende Angehörige oft erleben.
Die Fähigkeit zu Belastbarkeit und Widerstandsfähigkeit wird in der Psychologie als Resilienz beschrieben. Resiliente Menschen können auf die Anforderungen wechselnder Situationen flexibel reagieren – eine lebenswichtige Fähigkeit, vor allem wenn der äußere und innere Belastungsdruck steigen. Im wirtschaftlichen Kontext geht die Definition des Begriffs „Resilienz“ über die individuelle Fähigkeit hinaus und inkludiert auch das organisationale Vermögen, sich schnell und erfolgreich an ständig verändernde Anforderungen, intern wie extern, anzupassen.
Was raten Sie (jungen, älteren) Menschen (oder jenen mittleren Alters), wenn sie an sich Verstimmungen, Traurigkeit, Angst, Reizbarkeit etc. feststellen?
Der erste Weg sollte zum Hausarzt führen. Dieser kann zum Facharzt für Psychiatrie oder zum Psychotherapeuten überweisen. „Betroffene können uns auch direkt ansprechen“, sagt Pascal Palombo, Leiter CompetenceCenter Sozialer Dienst. Der Soziale Dienst der AOK Schwarzwald-Baar-Heuberg setzt sich bei den ersten Schritten unterstützend für die Betroffenen ein und berät gern über geeignete Angebote. Das Spektrum geht von Informationen zu Beratungsstellen und möglichen ergänzenden Angeboten (wie z.B. den Kontaktdaten zu Selbsthilfegruppen) bis hin zu einem Beratungsprozess mit Maßnahmenplanung welche sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und die Versicherten begleitet, solange Bedarf besteht. Scham ist unangebracht, denn eine Depression ist eine ernste Erkrankung: „Wichtig ist es, ehrlich zu sich selbst und zum Arzt zu sein“, so der AOK-Experte. Ist eine Depression diagnostiziert, kann sie in der Regel gut behandelt werden.
Es gibt verschiedene Hilfsangebote
- Das FacharztProgramm Psychiatrie/Neurologie /Psychotherapie (PNP) bietet AOK-Versicherten viele Vorteile wie etwa mehr Beratungszeit, schnellere Terminvergabe und eine enge Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Therapeuten. Diese ist für eine bestmögliche Wirkung der Behandlungsmaßnahmen wichtig. Mehr Infos unter aok-bw.de/facharztprogramm
- Das Online Selbsthilfeprogramm MoodGYM richtet sich an alle, die ihre psychische Gesundheit stärken wollen. Bei depressiven Symptomen kann es eine ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung sinnvoll ergänzen. Infos unter aok-bw.de/moodgym
- Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe (mit Unterstützung der Deutsche-Bahn-Stiftung) bietet Infos, einen Selbsttest und ein Forum unter deutsche-depressionshilfe.de
- Deutschlandweites, kostenloses Info-Telefon Depression unter 0800 33 44 533
- Die Deutsche DepressionsLiga e. V. ist die bundesweite Patientenvertretung für Menschen mit Depression unter depressionsliga.de
- Um die psychische Gesundheit zu fördern, können AOK-Versicherte an dem Präventionsprogramm „Lebe Balance“ teilnehmen (https://www.aok.de/pk/uni/inhalt/lebe-balance-das-gesundheitsprogramm/).
Gibt es aktuell eine Wartezeit auf einen Therapieplatz oder einen therapeutischen Kontakt für neue Patienten?
Generell gibt es recht lange Wartezeiten für Therapieplätze, die sich nach Dringlichkeit und Kapazität der Therapeuten richten. Durch das AOK-FacharztProgramm Psychiatrie/Neurologie /Psychotherapie (PNP) haben Versicherte der AOK Baden-Württemberg die Möglichkeit, schnellere Termine bei teilnehmenden Therapeuten und Fachärzten zu erhalten.
Wie lange dauert durchschnittlich eine Therapie innerhalb etwa einer mittelschweren oder schweren depressiven Phase?
Hierzu ist keine pauschale Aussage möglich, die Dauer der Therapie richtet sich nach dem individuellen Bedarf.
Weitere Beiträge aus dieser Serie: