Region Rottweil. Gerichtliches Nachspiel eines tödlichen Autounfalls in Aldingen: Fast volle zehn Jahre nach dem dramatischen Ereignis ist der Verursacher eines Unfalls, bei dem ein 19-Jähriger sein Leben und eine 17-Jährige ihre Zukunft verloren, nun zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Nach einem Urteil des Amtsgerichts Tuttlingen hätte der Unfallfahrer noch in Haft müssen, wehrte sich aber juristisch dagegen. Die Verhandlung vor dem Landgericht Rottweil endete für ihn glücklich. Für die Angehörigen der Unfallopfer nicht, wie auch der Richter einsah. Doch er konnte mehrere Gründe für das, wie er es indirekt nannte, unangemessene Urteil vorbringen.
Ein damals 19-jähriger Beifahrer, der noch an der Unfallstelle verstarb. Eine schwerverletzte, seinerzeit 17-jährige Mitfahrerin, die seither halbseitig gelähmt, die auf den Rollstuhl angewiesen ist. Zerbrochene Familien. Das sind nur die gravierendsten Folgen einer morgendlichen Alkoholfahrt eines jungen, damals 21-jährigen Mannes von Trossingen nach Aldingen nach durchzechter Nacht. Mitten in der Gemeinde war der Unfallfahrer mit einer Geschwindigkeit von über 90 km/h unterwegs, überholte sogar zwei vorausfahrende Autos. An einem Sonntag im Juli, um 10.45 Uhr, war das. Beim Wiedereinscheren verlor er die Kontrolle über den von einem Kumpel geliehenen Wagen. Dieser kommt nach rechts von der Fahrbahn ab, durchbricht einen Zaun und prallt frontal auf einen Garagenpfeiler. Dabei soll das Auto, ein älterer Opel-Astra, noch wenigstens 78 Kilometer pro Stunde schnell gewesen sein, wird später ein Gutachter berechnen.
Den Ablauf hatte der damals 21-Jährige bei seinem ersten Prozess vor dem Tuttlinger Amtsgericht zugegeben, er war geständig. Darüber hinaus konnte er seine Gedanken über die dramatischen Folgen seiner Sufffahrt – er hatte damals Wodka und Bier getrunken, hatte 1,16 Promille intus, stellte die Polizei fest – vor dem Richter nicht persönlich ausdrücken. Sein tiefes Bedauern ließ er erklären. Durch seinen Anwalt, der sodann eine Bewährungsstrafe forderte, also eine Strafe, die unter zwei Jahren bleibt und noch zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Das war 2015.
Das Amtsgericht verhängte damals, im Februar, aber eine Haftstrafe von zweieinhalb Jahren, unter anderem wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung. Seine Schuld wiege zu schwer, als dass er davonkommen könne, ohne eine Haft zu verbüßen, hieß es im Urteilsspruch. So hatte der junge Mann zum Zeitpunkt seiner Sufffahrt, die das Ende einer in Trossingen mit Kumpels durchzechten Nacht markierte, keinen Führerschein, hatte noch nie einen besessen, setzte sich dennoch wie der King ans Steuer eines geliehenen Autos. Der Strafrahmen seiner Taten: bis fünf Jahre Haft.
Gegen das Urteil legte der junge Mann, der mittlerweile in Berlin lebt, umgehend Berufung ein. Dass es erst heute, im Juni 2023 zur erneuten Verhandlung kam, habe an der Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten gelegen. Das Verfahren habe für längere Zeit vorläufig eingestellt werden müssen, so das Landgericht Rottweil, dessen 11. Kleine Strafkammer am Dienstag über den Fall verhandelte, im Vorfeld. Wie dann bekannt wird: Der Todesfahrer war zwar immer wieder psychiatrisch begutachtet worden, aber lange Zeit laut den Ärzten nicht in der Lage, dass gegen ihn verhandelt werden könnte.
Nun also saß er wieder auf der Anklagebank. An einem sonnigen Tag rund zehn Jahre nach seiner verhängnisvollen, seiner rücksichts- und verantwortungslosen Unfallfahrt. Diese ist nicht ausführlich neu aufgerollt worden – dem heute 31-Jährigen ging es, nach wie vor, nur um das Strafmaß. Knast oder nicht, so die Frage für ihn. „Das Ziel der Berufung ist eine Bewährungsstrafe“, sagte sein Rechtsanwalt. Verhandelt wurde darüber im Beisein von Angehörigen des beim Unfall Getöteten und der seither Schwerbehinderten. Sie selbst war nicht da.
Dunkle Augenringe, rote Ohren
In sich zusammengesunken sitzt er da, kurzgeschorene Haare, dunkle Augenringe, rote Ohren. Oberlippenbärtchen. Schwarzes T-Shirt mit weißem Aufdruck. Zahlreiche Einstiche in den Unterarmen. Nasale Stimme. Zunächst befragt ihn der Vorsitzende Richter am Landgericht zu seiner Kindheit und Jugend. Er berichtet von Alkohol, Schlägen, einer Pflegefamilie, Aufenthalten im Heim. Nach dem Unfall sei der Kontakt zwischen ihm und seiner Familie endgültig abgebrochen. Zu diesem Gerichtstermin kommt auch niemand, der ihn unterstützte, außer seinem Verteidiger. Seine Ausbildung zum Zerspanungsmechaniker habe er in einer Einrichtung für „Lernproblemleute“ gemacht, wie er erzählt. Nach dem Unfall war er lange arbeitslos, ist jetzt in einer Beschäftigungsinitiative in Berlin, drei Stunden am Tag, erfasst und bearbeitet unter anderem Daten am PC. Und er habe eine Partnerin, eine Familie mit ihr, nehme keine Drogen mehr, trinke kaum noch Alkohol. In Berlin war er zunächst als Obdachloser gestrandet. Fragen müssen leicht verständlich formuliert werden, sonst wirkt er schnell hilflos.
Über seinen Rechtsanwalt lässt er bei seiner Berufungsverhandlung in Rottweil erklären, dass „das schreckliche Ereignis“, wie er es nennt, von vor fast zehn Jahren sein Leben stark verändert habe. Er habe seither mit der Schuld zu leben und wisse, dass es dafür kein Verzeihen geben könne. Er übernehme die volle Verantwortung für den Unfall. Heute lebe er nur für seine Familie. Eine Hochzeit sei im Gespräch. Fast neun Jahre seien sie zusammen, zwei Kinder habe seine Partnerin mit in die Beziehung gebracht. Während der Verhandlung meidet er die Blicke der Angehörigen der Unfallopfer, scheint fast unter der Anklagebank Schutz zu suchen.
Das Gericht beschäftigt sich in den vorgesehenen zwei Stunden Prozessdauer intensiv mit ihm, seiner Lebensgeschichte. Und mit der andauernden Verhandlungsunfähigkeit, seinen durch den Unfall ausgelösten Leiden. Das beschäftigt den Richter. Er blättert in dicken Aktenstapeln, wie, um dort die Antwort auf die Frage zu finden, ob dem Todesfahrer ein Teil der Strafe erlassen werden kann, damit er nicht ins Gefängnis muss.
„Eine Haft macht das Geschehene nicht wieder gut“ vs. „Eine Bewährungsstrafe wäre falsch“
Sein Mandant habe „nie versucht, das fürchterliche Ereignis zu verharmlosen“, sagt sein Anwalt in seinem Plädoyer. Er versuche nun vielmehr, sein Leben zu verbessern, meide Alkohol und Drogen. Er habe eine schwere Kindheit gehabt, das sei aber keine Entschuldigung. Er wisse von dem Unglück, das er über die Familien der Unfallopfer gebracht habe. Lange sei er wegen seiner psychischen Schwierigkeiten auch nicht verhandlungsfähig gewesen. „Nach dieser langen, langen Zeit, nach dem, was inzwischen geschehen ist, ihn ins Gefängnis zu schicken, würde der Sache nicht gerecht werden“, sagte der Anwalt. Eine Haft würde das Geschehene auch nicht mehr gut machen.
Auch der Staatsanwalt verweist darauf, es spreche für den Angeklagten, dass er voll geständig gewesen sei. Und nicht vorbestraft. Und dass er Reue zeige. Andererseits habe er das Leben einer jungen Frau zerstört, das Leben eines jungen Mannes ausgelöscht. Daher müsse der 31-Jährige in Haft. Den tödlichen Unfall mit einer Bewährungsstrafe zu sanktionieren, „halte ich für falsch“, so der Staatsanwalt. Daher müsse die Berufung verworfen werden, der Todesfahrer dazu verurteilt werden, die Kosten des Verfahrens , auch die der Nebenkläger, der Angehörigen, zu tragen.
„Er stellt sich als Opfer dar“
„Er stellt sich als Opfer dar“, so der Vater des Getöteten in seinem Plädoyer als Nebenkläger, aufgebracht. Er stelle sich als schwerer verletzt dar als sein Sohn, fügte der Mann hinzu und wurde allmählich laut dabei. Der Unfallfahrer habe sich zudem nicht bei den Angehörigen entschuldigt, „das wäre das Mindeste, was man hätte tun können“. Für ihn völlig unverständlich. Der Vorsitzende Richter wird Verständnis für ihn zeigen. Wenn er auch nicht in seinem Sinne urteilt.
Eine gute Viertelstunde benötigt das Schöffengericht zur Beratung. Und entscheidet darauf, dass der Todesfahrer nicht in den Knast muss. Er erhält eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt zur Bewährung auf drei Jahre. Vier Monate des amtsgerichtlichen Urteils gelten nach der langen Verfahrensdauer von zehn Jahren ohnehin bereits als verbüßt.
An den Vater des getöteten jungen Mannes gewandt, erklärt der Vorsitzende Richter, dass dieser mit dem Urteil vermutlich nicht zufrieden sein könne. Er verstehe das, so der Richter. Aber man müsse sehen, dass der Unfallfahrer selbst unter der Tat leide. Das könne man den psychiatrischen Gutachten entnehmen.
Das ursprüngliche Urteil des Amtsgerichts, zwei Jahre und sechs Monate Haft, „war angemessen“, erklärte der Richter. Nun aber sei es zehn Jahre nach der Tat, acht Jahre nach dem ersten Urteil. Dass der heute 31-Jährige verhandlungsunfähig gewesen ist, „wirkt letztlich auch zu seinen Gunsten.“ Es müsse bei der Strafzumessung berücksichtigt werden. Auch, dass er geständig war und nicht (einschlägig) vorbestraft. Damit sei das Gericht zu einem Strafrahmen von zwei Jahren gekommen – der noch zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Da der Unfallfahrer inzwischen in einer gefestigten Beziehung lebe und seit dem Unfall nicht mehr straffällig geworden ist, könne ihm die Haft erspart werden.
Man habe die gravierenden Folgen der Tat zu sehen, aber auch die Umstände seither, so der Richter. Den Mann „jetzt ins Gefängnis zu schicken nach so vielen Jahren“, sei nicht die Reaktion, die der Staat nach so langer Zeit nun zeigen müsse. Es sei schlicht nicht sinnvoll. Der Mann sei angeschlagen, könne nur drei Stunden am Tag arbeiten, packe nicht mehr. Es gebe keinerlei Anhaltspunkte, dass der Unfallfahrer seine Leiden simuliere. „Er ist durch die Tat auch selbst stark mitgenommen, auch psychisch“, so der Richter.
Unangemessene Strafe mit Gründen
Und abschließend: Er verstehe, dass dies „kein Urteil ist, das alle zufriedenstellt“, sagt der Richter. „Aber das wird es auch nicht sein können.“ Man wünsche sich als Angehöriger eine angemessene Strafe, die dann bald auch vollstreckt werde. „Das ist hier nicht der Fall.“ Im Umkehrschluss bedeutet das: Das Gericht hat an diesem Dienstag eine an sich unangemessene Strafe für eine rücksichts- und verantwortungslose Todesfahrt verhängt, die aber dennoch ihre Gründe hat: die lange Verfahrensdauer, die Leiden des Unfallfahrers, seine Lebensweise seither, seine gute Prognose für die Zukunft.
Den Urteilsspruch nahmen die Prozessparteien unterschiedlich auf: Der 31-Jährige wirkte weiter eingeschüchtert, ängstlich, als hätte er gar nicht verstanden. Der Vater des Getöteten fand sich rasch in den ausgebreiteten Armen seiner Frau wieder, die ihn mutmaßlich von etwas Unüberlegtem abhalten wollte. Weitere Angehörige verließen kopfschüttelnd den Saal. Und der Staatsanwalt? Dieser hatte keinen Rechtsmittelverzicht erklärt. Man werde darüber nachdenken, ob man nun in Berufung gehen wolle, sagte er der NRWZ.