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    Abschied vom bäuerlichen Leben

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    Ein Buch geht gerade durch die Decke, aus dem man viel über einen Umbruch lernen kann, der auch die Region Rottweil verändert hat: In „Ein Hof und elf Geschwister“ erzählt der Tübinger Geschichts-Professor Ewald Frie vom „stillen Abschied vom bäuerlichen Leben.“

     

    Deutscher Sachbuch-Preis 2023, Platz Eins der Spiegel-Bestseller-Liste, sogar die „Tagesschau“ nahm sich jüngst zwei Minuten Zeit für dieses Buch. Mitte Februar erschienen, liegt es mittlerweile in der zehnten Auflage vor – ein Erfolg, der völlig unerwartet kam.

     

    Denn der Autor Ewald Frie beackert ein Themenfeld, in dem eigentlich keine Sensationen warten: Er erzählt – straff und pointiert – von den Veränderungen in der Landwirtschaft im Münsterland grob gesagt seit den 1930er Jahren.

     

    Frie skizziert die Welt seiner Eltern, in der noch vieles von Hand gemacht werden musste – „richtige Maloche“, wie es heißt. In der aber schrittweise Neuerungen einzogen. Und die sich binnen weniger Jahre fast geräuschlos radikal veränderte: Immer weniger Menschen suchten und fanden ihr Auskommen in der Landwirtschaft – einst hoch geachtete Bauern wurden nun belächelt, während andere Lebensmodelle und Berufe attraktiv wurden.

     

    Der Wandel lässt an Zahlen zeigen: Waren um 1900 im „ersten Sektor“ der Nationalproduktion, also der Landwirtschaft, noch über 38 Prozent der Bevölkerung tätig, so sank der Anteil bis 1950 auf 24,3 Prozent – um bis 2021 auf gerade noch 1,2 Prozent zu schrumpfen.

     

    Das alles ist bekannt. Aber Ewald Frie gelingt es, dieses dramatische Abschmelzen, in ein überschaubares Sichtfeld zu rücken. Denn Frie wurde 1962 als neuntes von zwölf Kindern einer katholischen Bauernfamilie im Münsterland geboren. Mit seinen zehn noch lebenden Geschwistern, geboren zwischen 1944 und 1969, hat der Historiker Interviews geführt. Und diese individuelle Perspektive verknüpft er mit übergreifender Forschung zum Strukturwandel der Agrargesellschaft. Frie schafft es, das kleine Beispiel und das große Gesamtbild erhellend zusammenzufügen.

     

    Er beleuchtet das Thema also wissenschaftlich fundiert und zugleich enorm anschaulich. Mehr noch: Frie nimmt die Leser mit hinein in diese tiefe Umwälzung. Er macht verstehbar und spürbar, wie die stolze bäuerliche Landwirtschaft mit Viehmärkten, Selbstversorgung und harter Knochenarbeit in rasantem Tempo und doch fast geräuschlos verschwand.

     

    Anhand seiner Geschwister verdeutlicht er, wie schnell sich Leitvorstellungen und Lebensentwürfe änderten. Wie die Welt der Zuchtbullen, der pferdegezogenen Pflüge und der Selbstversorgung, in der auch Kinder bereits anpacken mussten, von technischen und sozialen Veränderungen weggefegt wurde. Wie einst geachtete Bauern plötzlich als rückständig galten. Und ihre Kinder in der Schule verspottet wurden, weil sie nach Stall rochen. Oder Dialekt sprachen. Was für Shitstorms ließen sich heute aus derlei Diskriminierung anfachen!

     

    Frie bleibt jedoch stets sachlich. Zwar schreibt er mit Respekt. Aber weder weint er der vergangenen bäuerlichen Welt nach oder romantisiert sie. Noch belächelt der renommierte Universitätsprofessor ein ländliches Leben, das in den 1950er-Jahren dem Mittelalter näher war als unserer digital-hypermobilen Gegenwart.

     

    Der Erfolg des Buches hat vielleicht mit dieser Balance zu tun. Mit der klugen Art, wie Ewald Frie den Blick dafür öffnet, dass man keine verklärte Idylle des Landlebens zeichnen muss. Dass aber auch viel verloren gegangen ist, in diesem Umbruch – Nähe zur Natur zum Beispiel, oder ein Maßhalten im Umgang mit Lebensgrundlagen. Zudem zeigt er, dass die lange abschätzig belächelte bäuerliche Welt als prägende Erfahrung in viele Biografien hineinragt – eine Erfahrung, die man mehr und mehr als Schatz begreift.

     

    Womöglich hat der Hype um „Ein Hof und elf Geschwister“ aber auch damit zu tun, dass der Autor von einer ganzen Welt erzählt, die als stabil galt und doch schnell verschwunden ist. Das macht deutlich, dass nichts stehen bleibt und Veränderungen auch künftig Welten wegfegen können.

     

    Info: Ewald Fries Buch „Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschid vom bäuerlichen Leben“ ist im Verlag C.H. Beck erschienen, hat 191 Seiten und kostet 23 Euro (E-Book: 17,99 Euro).

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    Ein Buch geht gerade durch die Decke, aus dem man viel über einen Umbruch lernen kann, der auch die Region Rottweil verändert hat: In „Ein Hof und elf Geschwister“ erzählt der Tübinger Geschichts-Professor Ewald Frie vom „stillen Abschied vom bäuerlichen Leben.“

     

    Deutscher Sachbuch-Preis 2023, Platz Eins der Spiegel-Bestseller-Liste, sogar die „Tagesschau“ nahm sich jüngst zwei Minuten Zeit für dieses Buch. Mitte Februar erschienen, liegt es mittlerweile in der zehnten Auflage vor – ein Erfolg, der völlig unerwartet kam.

     

    Denn der Autor Ewald Frie beackert ein Themenfeld, in dem eigentlich keine Sensationen warten: Er erzählt – straff und pointiert – von den Veränderungen in der Landwirtschaft im Münsterland grob gesagt seit den 1930er Jahren.

     

    Frie skizziert die Welt seiner Eltern, in der noch vieles von Hand gemacht werden musste – „richtige Maloche“, wie es heißt. In der aber schrittweise Neuerungen einzogen. Und die sich binnen weniger Jahre fast geräuschlos radikal veränderte: Immer weniger Menschen suchten und fanden ihr Auskommen in der Landwirtschaft – einst hoch geachtete Bauern wurden nun belächelt, während andere Lebensmodelle und Berufe attraktiv wurden.

     

    Der Wandel lässt an Zahlen zeigen: Waren um 1900 im „ersten Sektor“ der Nationalproduktion, also der Landwirtschaft, noch über 38 Prozent der Bevölkerung tätig, so sank der Anteil bis 1950 auf 24,3 Prozent – um bis 2021 auf gerade noch 1,2 Prozent zu schrumpfen.

     

    Das alles ist bekannt. Aber Ewald Frie gelingt es, dieses dramatische Abschmelzen, in ein überschaubares Sichtfeld zu rücken. Denn Frie wurde 1962 als neuntes von zwölf Kindern einer katholischen Bauernfamilie im Münsterland geboren. Mit seinen zehn noch lebenden Geschwistern, geboren zwischen 1944 und 1969, hat der Historiker Interviews geführt. Und diese individuelle Perspektive verknüpft er mit übergreifender Forschung zum Strukturwandel der Agrargesellschaft. Frie schafft es, das kleine Beispiel und das große Gesamtbild erhellend zusammenzufügen.

     

    Er beleuchtet das Thema also wissenschaftlich fundiert und zugleich enorm anschaulich. Mehr noch: Frie nimmt die Leser mit hinein in diese tiefe Umwälzung. Er macht verstehbar und spürbar, wie die stolze bäuerliche Landwirtschaft mit Viehmärkten, Selbstversorgung und harter Knochenarbeit in rasantem Tempo und doch fast geräuschlos verschwand.

     

    Anhand seiner Geschwister verdeutlicht er, wie schnell sich Leitvorstellungen und Lebensentwürfe änderten. Wie die Welt der Zuchtbullen, der pferdegezogenen Pflüge und der Selbstversorgung, in der auch Kinder bereits anpacken mussten, von technischen und sozialen Veränderungen weggefegt wurde. Wie einst geachtete Bauern plötzlich als rückständig galten. Und ihre Kinder in der Schule verspottet wurden, weil sie nach Stall rochen. Oder Dialekt sprachen. Was für Shitstorms ließen sich heute aus derlei Diskriminierung anfachen!

     

    Frie bleibt jedoch stets sachlich. Zwar schreibt er mit Respekt. Aber weder weint er der vergangenen bäuerlichen Welt nach oder romantisiert sie. Noch belächelt der renommierte Universitätsprofessor ein ländliches Leben, das in den 1950er-Jahren dem Mittelalter näher war als unserer digital-hypermobilen Gegenwart.

     

    Der Erfolg des Buches hat vielleicht mit dieser Balance zu tun. Mit der klugen Art, wie Ewald Frie den Blick dafür öffnet, dass man keine verklärte Idylle des Landlebens zeichnen muss. Dass aber auch viel verloren gegangen ist, in diesem Umbruch – Nähe zur Natur zum Beispiel, oder ein Maßhalten im Umgang mit Lebensgrundlagen. Zudem zeigt er, dass die lange abschätzig belächelte bäuerliche Welt als prägende Erfahrung in viele Biografien hineinragt – eine Erfahrung, die man mehr und mehr als Schatz begreift.

     

    Womöglich hat der Hype um „Ein Hof und elf Geschwister“ aber auch damit zu tun, dass der Autor von einer ganzen Welt erzählt, die als stabil galt und doch schnell verschwunden ist. Das macht deutlich, dass nichts stehen bleibt und Veränderungen auch künftig Welten wegfegen können.

     

    Info: Ewald Fries Buch „Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschid vom bäuerlichen Leben“ ist im Verlag C.H. Beck erschienen, hat 191 Seiten und kostet 23 Euro (E-Book: 17,99 Euro).

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