1923 setzten mehrere Krisen der jungen Republik zu. In einer Serie geht die NRWZ der Frage nach, wie sich die Geschehnisse vor hundert Jahren in Rottweil auswirkten und wie sie wahrgenommen wurden. Hier nun der zweite Teil: im Krisenjahr fiel die Fasnet aus.
Rosig waren die Zeiten ohnehin nicht. Vier Jahre nach Ende der Kampfhandlungen überschattete nach wie vor der verheerende Erste Weltkrieg das Leben auch in Rottweil. 279 Soldaten aus der Stadt waren gefallen und hatten schmerzhafte Lücken nicht nur in ihren Familien hinterlassen. Auch darüber hinaus waren die materiellen und ideellen Nachwirkungen des Kriegs allgegenwärtig.
Im Januar 1923 kam jedoch ein gewaltiger Nackenschlag hinzu: Dass die Weimarer Republik vergleichsweise geringfügig mit den festgesetzten Reparationen in Verzug geraten war, nahmen Frankreich und Belgien zum Anlass, ab dem 11. Januar das gesamte Ruhrgebiet zu besetzen, über welches die Franzosen sofort den Ausnahmezustand verhängten. Mit dem Einmarsch von rund 60.000 Soldaten in das Zentrum der deutschen Schwerindustrie wollte der französische Regierungschef Poincaré den Versailler Vertrag zugunsten Frankreichs verändern und die deutsche Westgrenze nach Osten verschieben.
Die Besetzung wurde als widerrechtliche Fortführung des Krieges gesehen. Sie rief einen parteiübergreifenden Sturm der Empörung hervor, der auch in Rottweil geteilt wurde. Die Reichsregierung ermutigte die Menschen im Ruhrgebiet zu passivem Widerstand und verbot Beamten, Befehle der Besatzer zu befolgen. Auf die geschlossene passive Gegenwehr reagierten die Besatzer, indem sie zwischen 120.000 und 150.000 Menschen aus dem Ruhrgebiet sowie aus dem seit 1919 besetzten Rheinland auswiesen.
Zur Gegenwehr, die auch Rottweil erfasste, gehörten Sammel- und Solidaritätsaktionen, die breite Unterstützung fanden. Zugleich wurde das öffentliche Leben binnen weniger Tage in eine Art Kriegszustand versetzt. Angesichts der Aggression von außen organisierte man im inneren einen nationalen Kraftakt.
Unter dem Eindruck der dramatischen Situation fasste die Vorstandschaft der Rottweiler Narrenzunft am 17. Januar 1923, also eine Woche nach Beginn des Einmarsches, einen, wie es hieß „schweren“ Beschluss. Dieser besagte, wie der zentrumsnahe „Schwarzwälder Volksfreund“ zitierte: „Wenn die allem Völkerrecht widersprechende Besetzung des Ruhrgebietes über die Fasnacht andauert, soll von einer Veranstaltung der Narrensprünge abgesehen werden“.
Am darauffolgenden Sonntag, dem 21. Januar 1923, stimmte die auch Generalversammlung der Narrenzunft dieser Linie des Vorstands zu. Damit waren die Weichen für einen Ausfall der Fasnet gestellt. Da sich die Lage in den besetzten Gebieten nicht entspannte, wurde eine Durchführung der Sprünge – Fasnetsmontag fiel 1923 auf den 12. Februar – immer unwahrscheinlicher. Spätestens als die Franzosen Anfang Februar auch in Baden einfielen und die Bedrohung damit deutlich näher rückte, war eine Straßenfasnet vollends ausgeschlossen.
In den Rottweiler Zeitungen, dem „Volksfreund“ und dem liberalen Bezirks-Amtsblatt „Schwarzwälder Bürgerzeitung“, finden sich jedenfalls keine Anzeichen dafür, dass darüber diskutiert worden wäre. Wofür die Zeitungen jedoch Anhaltspunkte bieten, ist, dass der Verzicht auf die Fasnet die Rottweiler beschäftigte und traurig machte.
Beredtes Zeugnis davon geben zwei Gedichte, die in beiden Zeitungen abgedruckt wurden. Das eine appelliert an Vernunft und Verantwortung. Es spricht davon, dass es gelte, „besonnen“ zu sein und deswegen die alten Masken „diesmal im Schrein“ zu lassen. Zugleich wird der Blick in eine Zukunft gerichtet, in der Deutschland militärisch nicht im Nachteil sein werde und der „deutsche Adler“ mit scharf gewetztem Schnabel wieder über dem Rhein aufsteige. Was dann zu erwarten sei, wird nicht ausgesprochen, die Drohung aber deutlich: „Dann Franzmann huhuhu!“ schließen die Verse.
Das zweite, längere Gedicht, behandelt das Thema einfühlsamer und ohne aggressive Töne. Auch hier richtet sich der Blick auf das Kommende, aber mit anderes Stoßrichtung: Der Verzicht auf den „schönen Narrenzug“ werde sicher von der Nachwelt als ehrenvolle Tat gewürdigt, ist sich „ein Freund der Narrenzunft“, wie der Verfasser firmiert, sicher.
Im letzten Teil, eingeführt mit der bemerkenswerten Beobachtung „Wenn die Welt ist ohn‘ Vernunft; hat sie doch die Narrenzunft“, wird sogar aufgerufen, trotz allem eine Narrenkarte zu kaufen. Dabei wird in Aussicht gestellt, dass das eingenommene Geld wohltätigen Zwecken zugutekomme – nach dem Motto: „Und daß Hoheit Karneval / Wird zum Segen überall!“
Dass es sich hierbei nicht um ein leeres Versprechen handelte, ist dem „Schwarzwälder Volksfreund“ vom 17. März 1923 zu entnehmen. Immerhin 180.000 Mark kamen zusammen. Diese seien von der Narrenzunft in bar „an die kath. Und protest. Krankenschwestern, an Kleinrentner und sonstige bedürftige Bürger und Bürgerinnen“ verteilt worden. Außerdem, berichtete der „Volksfreund“ weiter, kamen dank der Spenden „die Insassen des Spitals und städt. Krankenhauses“ in den Genuss von „Naturalgaben“, die mit „rühmendem Danke“ entgegengenommen worden seien.
Die beiden Gedichte sollten der Mitgliedskarte aufgeklebt oder beigefügt werden, rieten die Zeitungen. Damit erhielten diese „historischen Wert“, hieß es.
Info: Lesen Sie im dritten Teil der NRWZ-Serie über das Krisenjahr 1923, wie in Rottweil der Separatismus im Rheinland und der Pfalz eingeschätzt wurde, wo man unabhängige Staaten errichten wollte.