Ein Wunder – das wär’s jetzt! Corona-Pandemie, Klima-Stress, gesellschaftliche Spannungen und andere Probleme gelöst – wie beschwingt könnte man da ins neue Jahr starten. Immerhin ein Wunder verzeichnet die Stadtgeschichte bereits: 1643, in höchster Not im Dreißigjährigen Krieg. Lesen Sie dazu hier Teil fünf der NRWZ-Reihe zur bis 16. Januar laufenden Ausstellung zum 1250-Jahr-Jubiläum der Erstnennung Rottweils.
Die Lage war dramatisch, die Angst groß: Französisch-weimarische Truppen unter Marschall Guébriant, 10.000 Fußsoldaten und 7.000 Reiter, belagerten das ohnehin schon arg gebeutelte Rottweil. Mehrere Aufforderungen zur Übergabe hatte es gegeben. Versprochen wurde dabei die gemeine Bürgerschaft, Frauen und Kinder, Geistliche, Klöster und Kirchen zu schonen.
Am 18. November 1643 fiel ein großer Abschnitt der Ringmauer, ein Sturm schien unmittelbar bevorzustehen. Daraufhin brach in der Stadt heftiger Streit aus, ob über Waffenstillstand und Übergabe verhandelt werden sollte. Bis zum 3. Dezember setzen sich die schweren Kriegshandlungen fort, die Zerstörungen erreichten immer schlimmere Ausmaße: Die Vorstädte, ein Drittel der Kernstadt, wesentliche Teile der Befestigung sowie der kommunalen Infrastruktur lagen in Schutt und Asche, auch in den umliegenden Dörfern. Die Toten wurden nicht einmal mehr gezählt.
Vor diesem Hintergrund vollzog sich das Marienwunder von der „Augenwende“ in der damaligen Kirche der Dominikaner. Die erhaltenen Berichte und Zeugenaussagen zeigen, wie sich die Bevölkerung in den Wochen danach über das außerordentliche Geschehen verständigte.
Alle Berichte besagen, dass das spätmittelalterliche Gnadenbildnis auf dem Rosenkranzaltar mit der Not der Rottweiler mitzuleiden schien und mehrfach die Augen gewendet habe: Zum Jesuskind auf ihrem linken Arm, zum Himmel, zu den versammelten eifrigen Betern. Viele deuteten das Geschehen so, dass Maria auf das Rosenkranzgebet der Menschen reagierte, mit ihren Blicken das Volk und die Stadt einbezog und letztlich eine Begegnung ihres Kindes mit dem kriegsbedrohten Rottweil vermittelte.
Die Aussagen sind zahlreich, wonach Menschen aus allen Schichten auf die Beobachtungen vom 10., 11. und 25. November 1643 tief bewegt reagierten. Es soll sogar zur Bekehrung von Lutheranern gekommen sein.
Alle Gnadenbeweise und Glaubensstärkungen änderten freilich nichts an der prekären Lage der Stadt – zumindest nicht kurzfristig. Marienerscheinungen gab es damals zuhauf. Andernorts standen sie oft in Zusammenhang militärischen Siegen. In Rottweil hingegen stabilisierte Maria zwar Glauben und das Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen Konfession, hatte allerdings nicht viel mehr anzubieten als Trost im Ertragen – so jedenfalls sahen es ausweislich etlicher Protokolle viele im November 1643.
Wie fundierte historische Forschung – etwa durch den Tübinger Kirchenhistoriker Andreas Holzem – gezeigt hat, setzte sich erst langfristig eine andere Deutungsachse durch: Dass nämlich Maria mit den Rottweilern gelitten und diese auf inniges Bitten hin letztlich errettet habe.
Wie identitätsstiftend diese Erzählung eingesetzt wurde, veranschaulicht die Predigerkirche, die zur Hundertjahrfeier der Augenwende 1743 eine umfassende Barockisierung erfuhr – ganz ausgerichtet auf die „Madonna von der Augenwende“. Im Deckenfresko zeigt Joseph Wannenmacher die Belagerung mit der gütig über Rottweil schwebenden Muttergottes und Marschall Guébriant als deren Gegenpol – gleichsam eine Verkörperung des die Stadt bedrohenden Übels. Dass man diesem letztlich nicht unterlegen war, kann man durchaus als Wunder ansehen – wenn auch eines für Geduldige.
Info: Die Ausstellung endet am 16. Januar. Das Dominikanermuseum ist aufgrund der Pandemiesituation aktuell nur Freitag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr geöffnet. Am 6. Januar ist es geschlossen. Infos sowie die aktuellen Corona-Vorgaben sind zu finden unter: dominikanermuseum.de.