Als Ali Murat* am 9. September 2019 mit seinem kleinen Peugeot vom Parkplatz eines Schiltacher Unternehmens wegfährt, hat er sich sicher nicht vorstellen können, ein dreiviertel Jahr später auf einer Anklagebank in Oberndorf zu sitzen. Dem 27-jährigen Pakistani wirft die Rechtsreferendarin Elisa Ultsch als Vertreterin der Staatsanwaltschaft „unerlaubtes Entfernen vom Unfallort“ – im Volksmund Unfallflucht vor.
Murat kommt am Dienstagnachmittag in Begleitung seiner Anwältin Anna Glaßbrenner in den Gerichtssaal 1 im Oberndorfer Amtsgericht. Er, wie alle anderen Prozessbeteiligten, sitzt hinter eine Plexiglasscheibe. Corona-Schutz. Amtsgerichtsdirektor Wolfgang Heuer nimmt die Personalien auf: Geboren in Karatschi, ledig, Arbeiter, wohnhaft in Schramberg. Mitte Dezember hatte Heuer wegen Fahrerflucht einen Strafbefehl erlassen, gegen den Murat Widerspruch eingelegt hatte. Deshalb nun die Verhandlung – coronabedingt verspätet, wie Heuer bedauert.
Nichts bemerkt
Rechtsreferendarin Ultsch verliest die Anklageschrift. Demnach habe Murat am 9. September gegen 14.05 Uhr mit seinem Auto beim Ausparken ein anderes Auto angefahren, einen Schaden von 1482 Euro netto angerichtet und sei, „obwohl er den Unfall bemerkt habe“, davon gefahren. Das sei unerlaubtes Entfernen vom Unfallort.
Ali Murat versichert, er habe nichts bemerkt, er sei „ganz normal gefahren“. Ein paar Leute seien dort gestanden. Als die Polizei sich bei ihm gemeldet habe, sei er hin gegangen. „Ich bin nicht mit Absicht geflohen“, versichert er. „Wenn ich was bemerkt hätte, hätte ich angehalten.“ Richter Heuer will wissen, ob er das Radio eingeschaltet hatte. „Ja, aber nicht laut.“ Schwerhörig sei er auch nicht.
Polizist: Das passt nicht zusammen
Als erster Zeuge tritt ein Polizeihauptmeister vom Schramberger Revier auf, der als Sachbearbeiter den Fall untersucht hat. Er schildert, wie der Geschädigte die Polizei verständigt habe, dass zwei Autos betroffen gewesen seien, und er mit einem Kollegen in Schiltach die beiden Autos besichtigt habe. Die beiden Halter hätten berichtet, dass ein kleiner grüner Peugeot beim Rückwärts-Fahren gegen die beiden Autos geprallt sei, zuerst gegen einen großen Mitsubishi Pickup und dann gegen einen Opel.
„Am Mitsubishi habe ich keinen Schaden gefunden“, so der Polizeihauptmeister. Am Opel habe es einen schrägen Kratzer auf dem Scheinwerfer gegeben. Auch sei am Kühlergrill etwas verschoben gewesen. Lackspuren habe er keine entdeckt. „Eine direkte Anstoßstelle habe ich nicht gefunden.“ Er habe von einer Zeugin Fotos vom Unfall bekommen und so den Halter des Kleinwagens ermitteln können. Sie seien zu ihm in Schramberg gefahren. Da er nicht zu Hause war, habe er eine Ladung aufs Revier hinterlassen.
Am nächsten Tag sei Herr Murat erschienen und habe erklärt, er könne sich nicht an einen Unfall erinnern. Von der Zeugin habe er sich den Unfall per E-Mail schildern lassen. Beim Betrachten der Schäden und der beteiligten Autos habe er sich nicht erklären können, wie es zu dem Kratzer am Scheinwerfer gekommen sein soll. „Ich habe in 60 Zentimeter Höhe keine passende Stelle gefunden, wo er angestoßen sein könnte.“
Er sei schließlich zu dem Ergebnis gekommen, dass nur eines der beiden Autos „gewackelt“ haben kann. Der Opel habe einen Schaden. „Aber dass dieser vom PKW des Beschuldigten verursacht wurde, wage ich zu bezweifeln. Die Autos hatten keine Berührungspunkte.“
Richter Heuer zügelt seinen Zorn
Verblüffung im Gerichtssaal. Die Rechtsreferendarin staunt. Die Anwältin lächelt ein wenig. Ali Murat hört aufmerksam zu. Und Heuer? In ihm brodelt es. Er fragt den Polizisten: „Weshalb haben Sie dann eine Strafanzeige vorgelegt?“ Er habe die Akten von der Staatsanwaltschaft bekommen, die einen Strafbefehlsantrag mit Geldstrafe und vier-monatigem Fahrverbot gestellt habe. „Aber wo steht in Ihrer Anzeige, dass das Schadensbild gar nicht zusammenpasst?“- „Ich habe den Unfall ja nicht gesehen“, meint der Beamte. Richter Heuer: „Sie sagen doch, dass es nicht zusammenpasst.“
Wenn er das in den Akten gelesen hätte, dann hätte er den Strafbefehl nicht erlassen und Nachermittlungen veranlasst. „In der Anzeige fehlt Ihre Schlusserkenntnis.“ Heuer schiebt ein vergiftetes Lob hinterher: „Sie haben eine sehr gute Aussage gemacht, aber das hätten Sie in die Akte reinschreiben sollen.“
Der Beamte lässt sich seine Ladung unterschreiben, wartet das Urteil gar nicht mehr ab, und verlässt das Gericht.
Zwei wackelnde Autos – aber ein Schaden?
Heuer hört zwei Zeuginnen, die den angeblichen Unfall beobachtet hatten. Die eine sah zwei wackelnde Autos, die andere nur eines, weil sie erst da von ihrer Kollegin auf das Fahrverhalten des Peugeotfahrers aufmerksam geworden sei. Gehört hätten sie nichts.
Als Gutachter tritt ein sehr erfahrener DEKRA-Sachverständiger aus Reutlingen auf. Er habe sich die Fotos der Polizei, aber auch das Auto von Herrn Murat angesehen. Das Auto des Geschädigten sei schon repariert gewesen. Am Mitsubishi habe er keinen Schaden entdeckt und am Opel „keine Spuren, die sagen, das Auto von Murat war es“. Ein Kontakt sei schon möglich, es sei auch nicht zwingend, dass man solche Spuren finde. Der Stoßfänger sei etwas verschoben. Das Urteil des DEKRA-Mannes: „Es gibt keine Spuren, die beweisen, dass der Schaden von Murats Auto stammt.“
Und die Reparaturrechnung in Höhe von1700 Euro brutto? Heuer möchte wissen, ob die angemessen war. Der Gutachter überlegt: Allein der Scheinwerfer komme so auf 550 Euro, und wenn man den Stoßfänger frisch lackieren müsse…“Es ist nicht augenscheinlich überzogen.“ Heuer staunt: „Die Autos heute halten wohl gar nichts mehr aus?“
Schließlich kommt noch der Geschädigte als Zeuge. Heuer macht es kurz: Ob der Schaden schon vorher dagewesen sein könnte. Nein, das sei unmöglich, das Auto sei ja noch ganz neu gewesen. Die Versicherung habe bezahlt, berichtet er noch. Nach wenigen Minuten ist er entlassen
Dreimal Freispruch
Heuer fragt in die Runde, ob bei diesem Sachstand die Frage nach den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten noch erforderlich sei. Kopfschütteln bei den Beteiligten. Die persönlichen Verhältnisse sind wichtig, wenn es um die Höhe einer Geldstrafe geht. Dann bittet er Rechtsreferendarin Ultsch um ihr Plädoyer: „Sie müssen halt jetzt alle ihre vorbereiteten Zettel weglegen.“
Elisa Ultsch lacht und plädiert ohne ihr Manuskript: Die Beweisaufnahme habe erbracht, dass es möglicherweise zu Anstoßen gekommen sei. Man könne aber nicht beweisen, dass der Schaden vom Fahrzeug es Angeklagten stamme, erklärt sie in ihrer Rolle als Staatsanwältin. Deshalb Freispruch. Die Verteidigerin schließt sich dem an. Und in seinem letzten Wort versichert Murat noch einmal, er habe es nicht bemerkt.
Unmittelbar nach den Plädoyers bittet Heuer, sich zu erheben und verkündet das Urteil: „Freispruch, die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse.“
Das hätte für den frei gesprochenen Angeklagten bitter enden können
Der Tatbestand unerlaubtes Entfernen vom Unfallort setze voraus, dass bei einem Unfall ein Schaden entstanden sei. Es habe sich wieder einmal gezeigt, dass Zeugenaussagen das schlechteste Beweismittel sind. Er glaube den Zeuginnen durchaus, dass sie gesehen haben, dass die Autos wackeln. Aber ein Schaden? Er sei froh, dass der Schaden nicht 2000 Euro betragen habe, sonst hätte dem Angeklagten sogar eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis gedroht. „Da muss man vorsichtig sein, das kann eine Existenz kosten.“
Und dann bekommt der Polizeihauptmeister noch eins mit auf den Weg: Er fände es bedauerlich, dass der erfahrene Beamte als Sachbearbeiter, der die Akte zusammengestellt habe, darin die Vermutung nahe gelegt habe, es war Unfallflucht. „Jetzt sagt er als Zeuge, er könne sich nicht vorstellen, wie der Schaden zustande gekommen ist.“ Es sei gut, dass es zur Beweisaufnahme gekommen sei, denn so sei die Sache geklärt worden.
Sichtlich erleichtert verlässt Ali Murat den Gerichtssaal.
*Name geändert