Erdbeben haben Syrien und die Türkei erschüttert. Hatay, die einstmals fröhliche, kosmopolitische türkische Provinz, ist nun Standort von Massengräbern. Deniz Dönmez, der in Herrenzimmern lebt, hat eine ganz eigene, persönliche Erinnerung an Hatay, bezeichnet die Provinz als „kein gewöhnliches Stück Land“, und kann das auch begründen. Es ist ihm ein Anliegen, seine Erinnerungen, aber auch seinen Schock über das Naturereignis zu teilen. Und seine Hoffnung auf die Zukunft. Wir bringen seinen Text gerne im Wortlaut.
Gastbeitrag: Hatay – eine Provinz vom Erdbeben erschüttert – eine Geschichte von Deniz Dönmez
Sommer 2003, ich erinnere mich jedes Jahr aufs neue daran. Wir standen am Hafen von Ancona und warteten auf die Fähre, die uns von Ancona nach Igoumenitsa, näher an unsere Heimat Hatay bringt. Ich bin zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen, dennoch empfinde ich als Heimat diese kleine Provinz im Südosten der Türkei, was daran liegen muss, dass wir jeden Sommer die kompletten Sommerferien dort verbrachten, manchmal auch über Weihnachten bei unserer Verwandtschaft in Hatay waren. Ich glaube, der Name der Fähre war etwas wie „Blue-Star-Ferrys“.
In diesem Sommer war ich acht Jahre alt und stellte meinem Vater immer mehr Fragen über unsere Heimat und über unsere Herkunft, einige dieser Fragen konnte selbst er nicht beantworten. Fragen wie: „Baba, wieso reden wir eigentlich arabisch, wenn wir aus der Türkei sind?“. Mit den Jahren haben wir uns diese Fragen selbst beantwortet.
Heute möchte ich euch etwas über diese Provinz erzählen, wieso sie so toll ist und in meinen Augen einzigartig. Vielleicht war sie auch toll und wird es seit der zweiten Februarwoche 2023 nicht mehr sein.
Fangen wir mit den Basics an. Hatay ist eine Provinz in der heutigen Türkei in der alle großen Weltreligionen friedlich zusammenleben. Auch kleinere Religionsgruppen sind vertreten. Nicht nur verschiedene Religionen treffen dort aufeinander, ganze Völkergruppen wie Araber, Türken, Kurden und Armenier leben dort in Harmonie gemeinsam.
Kurze Side-Infos: In Samandag liegt das letzte armenische Dorf der Türkei, Vakifli. Die Bewohner von Vakifli sind aufgrund des Völkermordes im 20. Jahrhundert nach Samandag, meiner Heimatstadt, geflüchtet und wurden dort vor dem Staat geheim gehalten. Als ich 23 Jahre alt war, lernte ich einen in Deutschland lebenden Armenier kennen, der mir mitgeteilt hat, dass die Treppenstufen vor der Kirche in Vakifli, exakt 100 Stufen an der Zahl sind.
Wusstet ihr, dass die erste richtige christliche Kirche in Antakya in einer Grotte liegt? Gegründet von St. Petrus. Oder dass Moses seinen Gehstock in den Boden gerammt hat und dort ein heute ein riesiger Mammutbaum steht? Dieser Baum steht auf demselben Berg wie das kleine armenische Dorf Vakifli. Zu diesem Baum gibt es einige Erzählungen. In Samandag gibt es einen Pilgerort an dem Christen, Muslime, Juden, eigentlich jeder, beten kann und darf. Seit ich klein bin, hat man uns Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Kommunikation näher gebracht, daher war mir nie wirklich klar, wieso man andere Völker verachtet.
Es gibt so viel mehr über diese Provinz, welche für ein Jahr ein eigenständiger Staat war, zu erzählen. Ich möchte euch lediglich mit einem weiteren Fakt langweilen: Die Küche Hatays zählt zum UNESCO Creative Cities Network. Wie ihr festgestellt habt, ist dieser kleine Fleck auf der Landkarte kein gewöhnliches Stück Land.
Jedes Jahr fahren wir heute noch mit dem Auto nach Hatay. Bringen unseren Verwandten Geschenke aus Deutschland mit und haben nur ein paar Wochen, die wir mit unseren Liebsten verbringen können. Zur heutigen Zeit fahren wir nicht mehr die Strecke über Griechenland mit der Fähre, sondern über die Balkanländer. Damals war das leider nicht möglich, Grund dafür war unter anderem der Krieg in Serbien. Die Fahrt dauert, je nach Verkehr, zwischen drei und vier Tage, mit Übernachtung im Auto oder in einem Hotel. Einige von euch werden jetzt denken: „Jesses Gott, des muss doch anstrengend sei!“ Jedoch beginnt bei uns der Urlaub schon mit dem Beginn der Fahrt. Als Kind war es unglaublich aufregend. In jedem Land gab es die verschiedensten Dinge zu sehen. Mein Vater ist die Fahrt schon immer sehr gemütlich angegangen, daher habe ich die lange Strecke nie als Stressfaktor angesehen.
Heute bin ich 27 Jahre alt und fahre die Strecke jährlich mit meiner Frau, deren Heimat ebenfalls in Hatay liegt. Wir hatten öfter die Möglichkeit an einen anderen Ort zu fliegen, richtige Reisen anzutreten und Dinge zu erleben, die Reisende eben so erleben. Doch jedes Mal entschieden wir uns für Hatay, einfach, weil unser Herz danach verlangt.
06.02.2023 – für mich war es ein Tag, wie jeder andere. Der Wecker klingelt, ich richte mich für die Arbeit und fahre dann los. Bei der Arbeit angekommen, stellt mir mein Arbeitskollege die Frage, ob bei meiner Verwandtschaft in der Türkei alles gut sei. Nichts wissend antwortete ich ihm: „Ja, ich denke schon, wieso?“. Bis ich die Schlagzeile sah, die er in seinem Browser geöffnet hatte.
Still schaute ich in meinem Handy nach Nachrichten in unserer WhatsApp-Gruppe mit meinen Verwandten aus der Türkei. Keine Nachricht, keine Antwort auf die Frage meines Vaters: „Wie geht es euch?“. In diesem Moment, hab ich das Ganze immer noch nicht realisiert.
Ein Erdbeben der Stärke 7,8 erschütterte um vier Uhr nachts die Provinz. Erdbeben gab es dort schon öfter, weshalb ich anfangs das Ganze verharmlost betrachtete. Bis ich die Bilder im Netz sah, bis stundenlang keine Antwort von meinen Verwandten kam. Als die erste Nachricht kam, dass alle meiner nahen Verwandtschaft wohlauf sind, fiel mir ein Stein vom Herzen. Einen Tag später erfuhren wir, dass Bekannte nicht aufzufinden sind. Wir erfuhren, dass weitere Bekannte und Verwandte unter den Trümmern ihren Tod fanden. Teile von Hatay wurden dem Erdboden gleich gemacht.
Wie geht es jetzt weiter? Instinktiv starteten wir eine Spendenaktion, mein Onkel Ali Dönmez richtete vier Transporter hin, mit denen wir alles Wichtige ins Krisengebiet fahren konnten. Alle haben mit angepackt. Die Schwester meiner Tante, Cahide Dönmez, hat seit längerem eine gemeinnützige Organisation, welche Spenden für Kinder in Armut in Sierra Leone sammelt (KiBau Salone). Durch sie hatten wir die Möglichkeit den Spenden eine Plattform zu geben. Freunde, Familie, Bekannte, Mitmenschen die davon mitbekommen haben und helfen wollen, haben uns Spenden geschickt. Die Hilfsbereitschaft ist riesig und rührt uns sehr. Die Werte die uns von klein auf mitgegeben wurden, spiegeln sich in diesen Zeiten wieder.
Wie wird Hatay zukünftig aussehen? Wird es genauso harmonisch und weltoffen wie zuvor? Wir alle haben die Hoffnung darin, dass alles wie früher wird. Ich persönlich denke, dass Hatay nicht die Landschaft ausmacht, sondern die darin lebenden Menschen. So lange wie diese ihren Humor, ihre Offenheit und ihre Leidenschaft zu Leben nicht verlieren, glaube ich dass Hatay wieder erblühen wird.
Noch habe ich keine Kinder, aber ich hoffe, dass ich eines Tages meinem Sohn oder meiner Tochter die Frage: „Baba, wieso reden wir eigentlich arabisch, wenn wir aus der Türkei sind?“ beantworten kann.