Kommendes Wochenende erreichen die Feierlichkeiten zum 900-jährigen Bestehen von Heiligkreuz mit Pontifikalamt und großem Gemeindefest ihren Höhepunkt. Wir wollten im Vorfeld von Professor Dr. Werner Mezger, der seit Jahren dem Förderverein Münsterbauhütte e.V. vorsteht, wissen, worin er die Bedeutung der Rottweiler Hauptkirche in Geschichte, Gegenwart und Zukunft sieht – und was sein Lieblingsplatz im Münster ist.
NRWZ: Herr Professor Mezger, wenn Sie jemandem im Rheinland oder in Berlin in wenigen Sätzen erklären müssten, was das Besondere am Rottweiler Münster ist, was würden Sie sagen?
Werner Mezger: Das Rottweiler Münster steht für Heimat und Welt zugleich. Es ist als Bauwerk ein eindrucksvolles Zeugnis lokaler Frömmigkeit und hat in den 1840er Jahren durch Alexander Heideloff im Inneren eine Ausstattung mit bedeutenden Sakralkunstwerken erhalten, die aus verschiedensten Regionen Deutschlands von Schwaben über Franken bis nach Niedersachsen stammen. Der Apostelaltar etwa ist in Braunschweig entstanden.
NRWZ: Sie stehen seit Jahren dem Förderverein Münsterbauhütte vor, der die umfassenden Sanierungen maßgeblich mitfinanziert hat. Was ist die wichtigste Erkenntnis, die Sie dabei über das Münster gewonnen haben?
Werner Mezger: Die Pfarrkirche Heiligkreuz, das heutige Münster, ist das Ergebnis jahrhundertelanger gemeinsamer Anstrengungen aller Einwohner der Stadt. Viele steuerten während des Baus ihr Geld bei. Als im Spätsommer 1696 der gesamte Dachstuhl abgebrannt war, halfen spontan alle Zünfte zusammen, um bis zum Einbruch des Winters den Schaden wieder zu beheben. In jüngerer Zeit wurden die ganzen Glasfenster überwiegend durch Stiftungen finanziert. Da war es nur konsequent, auch zur jetzigen Restaurierung einen Förderverein ins Leben zu rufen. Und der hat gezeigt, wie sehr den Rottweilern ihr Münster bis heute am Herzen liegt. Über 1,5 Millionen Euro Spenden in den letzten 30 Jahren sprechen für sich.
NRWZ: Über den in zwei Etappen erbauten und seither stetig sanierten Kölner Dom sagt der Volksmund, wenn er einmal fertig sei, gehe die Welt unter. Könnte man das auch über das Rottweiler Münster kalauern – oder wird auch dieses Gotteshaus immer eine Baustelle bleiben?
Werner Mezger: Es wäre sicher nicht richtig, das Rottweiler Münster in einem schlechten Sprachbild als Fass ohne Boden zu bezeichnen. Aber nach der Restaurierung ist vor der Restaurierung. An einem solchen Bauwerk, das auf eine Geschichte von 900 Jahren zurückblickt, gibt es immer etwas instand zu setzen. Der große Brocken der General-Restaurierung ist zwar geschafft, aber kleinere Arbeiten fallen ständig an. Und so wird es wohl auch bleiben.
NRWZ: Was steht denn auf dem weiteren Arbeitsprogramm des Fördervereins Münsterbauhütte?
Werner Mezger: Sehr wichtig ist im Außenbereich zum Beispiel die Restaurierung und Sicherung des Ölbergs an der rechten Chorseite. Und innen ist die Orgel in die Jahre gekommen, die ganz dringend saniert werden muss, weil sie sonst eines Tages verstummt. Auch an diesem Projekt beteiligt sich der Förderverein.
NRWZ: An vielen bedeutenden Gotteshäusern ist die historische Substanz mit neuer Kunst weiterentwickelt worden – das Villinger Münster etwa mit den markanten Bronzeportalen von Klaus Ringwald. Warum kam es bei Heiligkreuz seit der Regotisierung abgesehen von Änderungen wegen Liturgiereformen nie zu solchen Akzentsetzungen?
Werner Mezger: Auch ins Heiligkreuzmünster haben Elemente der Moderne Einzug gehalten. Gerade die Orgelempore ist ein Einbau aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber richtig ist, dass die Kirche ihr gotisches Gepräge seit rund 170 Jahren kaum verändert hat. Dazu aber muss man wissen, dass der heutige Eindruck, den das Münster vermittelt, das Resultat der Regotisierung Heideloffs ist. Davor lag eine Barockphase, von der nur noch Spuren erhalten sind. Und auch was wir heute im Münster sehen, ist nicht etwa die Gotik des späten Mittelalters, sondern vielmehr das Idealbild der Gotik, wie man es um 1840 hatte. Beim genauen Hinsehen merkt man, dass sich das Münster trotz seiner gefühlten Kontinuität eigentlich fortwährend verändert hat.
NRWZ: Über Jahrhunderte war Heiligkreuz Sinnmitte der Stadtgesellschaft und stand im Schnittpunkt städtischen Lebens. Heute werden höhere Türme gebaut und das christliche Koordinatensystem der Gesellschaft verliert Bindekraft. Welche Bedeutung kann das Münster in einem so tiefgreifend veränderten Kontext haben?
Werner Mezger: Wenn Sie mit den „höheren Türmen“ den Testturm meinen, so wird dieser, obwohl ich ihn sehr bewundere, gemessen an den 900 Jahren des Münsters ein Wimpernschlag der Geschichte bleiben. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er auch nur 100 Jahre überdauert. Um auf mein Anfangsbild zurück zu kommen: Der Testturm ist ein Hauch von Welt, der Turm des Münsters ist Heimat – und zwar geistige und geistliche Heimat in einem. Und die Bindekraft des Münsters, von der Sie sprechen, sollte man gerade auch in der Moderne nicht unterschätzen. Die Menschen besuchen Heiligkreuz keineswegs nur als besonders authentisches Museum für Sakralkunst, sondern durchaus als Ort der Einkehr, der Ruhe und der Besinnung. Selten ist das Münster ganz leer. Man findet dort fast immer ein paar Besucher, die einfach nur für eine Weile etwas Stille suchen, die Atmosphäre auf sich wirken lassen und sich dabei Gedanken machen. In dem großartigen Andachts- und Meditationsraum kann jeder nach seiner Fasson selig werden. Gerade angesichts fortschreitender Säkularisierung hat Heiligkreuz immer noch eine erstaunliche Anziehungskraft.
NRWZ: Heiligkreuz war lange auch für nichtreligiöse Anlässe der zentrale Versammlungsort in Rottweil. So wurden hier die Stadtschultheißen gewählt. Ist es ein Nachteil, dass die sakrale und die profane Nutzung so auseinandergetreten sind – könnte das Münster vielleicht durch vermehrte Nutzung außerhalb von Gottesdiensten noch stärker in Gesellschaft hineinstrahlen?
Werner Mezger: Wenn heute von einer weltlichen Nutzung kirchlicher Räume die Rede ist, denkt man immer gleich an Popkonzerte und Festivals in besonders apartem Ambiente. Solche Events gehören wirklich nicht in Kirchen. In früheren Jahrhunderten aber dachte man Gott und die Welt viel enger zusammen als heute. Wenn etwa in reichstädtischer Zeit in der Pfarrkirche die Schultheißenwahl stattfand, so sollte dies sichtbar zum Ausdruck bringen, dass eine derart wichtige Entscheidung nur in der Verantwortung vor Gott getroffen werden könne. Heute scheint uns das fremd. Aber man sollte sich auch in der Gegenwart durchaus mal darüber Gedanken machen, welche nicht unmittelbar liturgischen Veranstaltungen eine Sinnmitte haben, mit der sie in einer Kirche, auch im Münster, gut aufgehoben wären. Da sind Kreativität und ein bisschen Mut gefragt.
NRWZ: Gotische Räume wie das Heiligkreuz-Münster wurden konzipiert als lichtdurchfluteter, farbenfroher Ausblick auf das himmlische Jerusalem wie es die Offenbarung des Johannes beschreibt, auf versöhnte Erlösung im Angesicht Gottes. Wie kann diese zentrale spirituelle Dimension heute zur Geltung gebracht werden?
Werner Mezger: Früher haben die Menschen diese Botschaft gotischer Räume noch ganz selbstverständlich begriffen. Heute muss man ihnen dabei helfen, etwa durch interessant gestaltete Kirchenführungen. Die können nach dem einfachen Prinzip ablaufen: Ich zeige Dir, was Du siehst. Man sieht und versteht tatsächlich nur, was man gezeigt und erklärt bekommt und dadurch begreift. Dass es heute an den Rottweiler Gymnasien Religions- und Geschichtslehrer gibt, die Schülern die Aufgabe stellen, mal eine Kirchenführung für ihre Mitschüler zu machen, ist eine tolle Idee und bereitet offenbar allen Beteiligten Spaß. Eigentlich hätte die Pädagogik darauf schon früher kommen können. Natürlich gibt es noch andere Wege, für heutige Menschen die spirituelle Dimension sakraler Raume erfahrbar zu machen. Aber das würde hier zu weit führen.
NRWZ: Was ist Ihr persönlicher Lieblingsplatz im Münster oder Ihre Lieblings-Anekdote zum Münster?
Werner Mezger: Mein Lieblingsplatz im Münster war als Kind immer in der Nähe des Löwen unter der Kanzel – am besten dort, von wo aus man ihn streicheln konnte. Heute bin ich in der Platzwahl flexibler. Mein skurrilstes Erlebnis im Münster war, als einmal eine ältere Dame zum Sonntagsgottesdienst mit ihrem weißen Pudel kam und sagte, er sei brav und belle auch nicht. Auf den vorsichtigen Einwand, dass Hunde als Gottesdienstbesucher doch eher unüblich seien, argumentierte sie mit dem heiligen Franziskus. Der habe sogar den Vögeln gepredigt, und da werde man ja wohl noch einen Hund mit in die Kirche nehmen dürfen. Eine theologisch zweifellos interessante Position. Aber das Problem löste sich schließlich von selbst: Noch ehe der Zelebrant aus der Sakristei kam und den Chorraum betrat, bellte der Hund.
Die Fragen stellte NRWZ-Redakteur Andreas Linsenmann.