Nach langer Unsicherheit geht es mit der Kopie der „Madonna von der Augenwende“ für die Predigerkirche nun zügig voran: Vorigen Donnerstag hat das Denkmalamt sein Einverständnis für die Replik gegeben – mit kleinen Änderungen. Am Dienstag stimmte der Kirchengemeinderat zu und bereits am Freitag erhielt die in Schramberg arbeitende Bildhauerin Andrea Wörner den Auftrag, die leicht variierte Kopie zu schnitzen. Die NRWZ hat mit der Holzbildhauermeisterin, eine ausgewiesene Expertin für solch heikle Aufgaben, gesprochen und sie unter anderem nach dem weiteren Ablauf gefragt.
NRWZ: Frau Wörner, das Vorhaben, eine Kopie der „Madonna von der Augenwende“ anzufertigen, zieht sich nun gut drei Jahre hin – hatten Sie mittlerweile schon Träume oder gar Alpträume, in denen diese Madonnenfigur aufgetaucht ist?
Andrea Wörner: Nein, zum Glück nicht! (lacht)
NRWZ: Gibt es das öfter, dass solche Projekte so langwierig sind?
Andrea Wörner: Seit gut 20 Jahren übernehme ich in den Bistümern Mainz, Speyer und Trier solche Restaurations- und Rekonstruktionsprojekte. Die Erfahrung zeigt: So etwas kann schon dauern. Entwürfe, Diskussionen – man muss ja möglichst viele überzeugen und mitnehmen bei so einem heiklen Vorhaben, das viele Gefühle und teils auch Vorbehalte hervorruft. Die „Madonna von der Augenwende“ gehört zu den Projekten, die einen besonders langen Atem erfordern.
NRWZ: Haben Sie zwischendurch befürchtet, das Projekt könnte scheitern?
Andrea Wörner: Offen gesagt schon. Nachdem sich lange nichts bewegte, hatte ich den Eindruck: Jetzt setzen sich die die kritischen Stimmen durch, die ja im Hintergrund nie ganz verstummt sind. Auch dass sich die untere Denkmalbehörde plötzlich quergestellt hat, nach dem das Landesdenkmalamt bereits zugestimmt hatte, war ein harter Schlag für das Projekt.
NRWZ: Nun ist ja ein Kompromiss gefunden. Das Denkmalamt stimmt zu, wenn bei der Kopie Details abgewandelt werden – wie finden Sie diese Lösung?
Andrea Wörner: Eigentlich hatte ich mich auf eine Eins-zu-Eins-Kopie eingestellt – eine Arbeit, die ich das aus konservatorischen Gründen bei anderen sakralen Bildwerken bereits gemacht hatte. Mit der leicht veränderten Version, für die ich ja die Entwürfe geliefert habe, kann ich mich jedoch ebenfalls gut identifizieren. Es wird jedoch schon eine etwas andere Figur.
NRWZ: Inwiefern?
Andrea Wörner: Die symbolischen und theologischen Aussagen verschieben sich etwas. Es wird ja die Mondsichel entfallen, auf der die Madonna steht, ihr Szepter wird leicht verändert, indem die Lilienknospe als Blütenkelch dargestellt wird, und das Jesuskind bekommt einen Apfel in die Hand, wodurch es als Weltenherrscher markiert ist. Dadurch wird die Madonna, die in der jetzigen Form als Himmelskönigin inszeniert wird, eher als „neue Eva“ und Symbol der Erlösung ausgewiesen. Das ist ein etwas anderer Bezugsrahmen, der weniger katholisch ausgerichtet ist, dafür jedoch der Marien-Theologie Martin Luthers entspricht.
NRWZ: Wie sind Sie denn bei der Umgestaltung vorgegangen?
Andrea Wörner: Für mich stand im Vordergrund, dass der Wiedererkennungswert erhalten bleiben sollte. Deshalb wollte ich an der Gestik nichts verändern, eben so wenig wie an der Kopfpartie. Zur Frage, was man variieren könnte, habe ich Bilddatenbanken mit Aufnahmen von Marienfiguren durchforstet und intensiv in Büchern zur christlichen Ikonografie recherchiert. Es braucht viel Gespür, da die richtigen Signale zu setzen, weil die Symbole sehr klar besetzt und lesbar sind. Zur Diskussion stand zum Beispiel auch, der Madonna statt des Szepters eine Rose in die Hand zu geben – aber das hätte formal nicht so gut gepasst. Die jetzt gefundene Lösung finde ich in sich stimmig.
NRWZ: Nun wird ein 3-D-Scan der Madonna angefertigt – warum?
Andrea Wörner: Die ursprüngliche Idee war, dass ich im Heilig-Kreuz-Münster bei der Madonna eine kleine Werkstatt einrichte und dann vor Ort die Kopie anfertige – so habe ich das in einem anderen Fall schon gemacht. Das stieß allerdings auf Vorbehalte beim Pfarrer und beim Denkmalamt. Deshalb wird nun zunächst ein 3-D-Scan der Madonna gemacht und auf Basis dieser Daten ein 3-D-Druck der Skulptur erstellt. Denn kann ich dann in mein Atelier in Schramberg mitnehmen und anhand dieser Vorlage die Replik schnitzen.
NRWZ: Was bedeuten die Änderungen für Ihren Arbeitsprozess?
Andrea Wörner: Bei den entsprechenden Stellen muss ich eben von der Vorlage abweichen. Dazu stelle ich Zeichnungen und dann Modelle in Ton her, ehe ich die entsprechende Partie vollplastisch in Holz ausarbeite. Eine besondere Herausforderung wird der Faltenwurf, der sich durch den Wegfall der Mondsichel ja verändert.
NRWZ: In einem früheren Gespräch hatten Sie erzählt, dass das Holz für die Kopie der „Madonna von der Augenwende“ schon bereitliege und sie das Projekt umgehend beginnen könnten – trifft das immer noch zu?
Andrea Wörner: Das Holz – gut abgelagerte Linde – liegt nach wie vor bereit (lacht)!
NRWZ: Wenn Sie mal ein optimistisches Szenario wagen: Wann könnten Sie mit der Replik fertig sein?
Andrea Wörner: Wenn alles gut läuft und es nun keine weiteren Verzögerungen gibt, im Herbst 2021, vielleicht auch schon etwas früher. Anschließend muss von einer Spezialistin hierfür noch die Farbfassung erstellt werden. Die evangelische Kirchengemeinde Rottweil geht davon aus, dass die Madonna im Frühjahr 2022 fertig ist – das erscheint mir realistisch.
NRWZ: Durch das Projekt sind Sie dieser Skulptur seit einiger Zeit sehr nahe. Was zeichnet für Sie die „Madonna von der Augenwende“ aus? Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere an diesem Bildnis?
Andrea Wörner: Beim Betrachten dieser Madonna erlebe ich immer wieder eine Art Zeitreise zu den Geschehnissen 1643, als Rottweil belagert war und beschossen wurde: In unglaublicher Not und Angst haben sich Menschen in die Dominikanerkirche geflüchtet. Sie haben in einer scheinbar ausweglosen Situation nicht aufgegeben, sondern gemeinsam inbrünstig zur Marienfigur gebetet. Allein schon darin, dass die Menschen sich zusammengetan haben, dass sie nicht Hass verbreiten, sondern friedlich beteten, liegt für mich ein Wunder. Die Madonna ist für mich eine Zeitzeugin dieser Vorgänge und eine Art Verbindung zu den Menschen damals.
Bildhauerisch übt die elegante Formensprache der Gotik eine große Faszination auf mich aus – und ich habe schon an vielen Objekten aus dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit direkt arbeiten dürfen.
Die Frage stellte unser Redakteur Andreas Linsenmann.