Als Lichtbringer, Himmelsboten oder verkaufsförderndes Kitschobjekt sind sie derzeit überall präsent: Engel gehören zur Weihnachtszeit wie das Christkind und der Tannenbaum. Auch unterm Jahr stehen sie hoch im Kurs: Viele Menschen vertrauen auf Engel in allen Lebenslagen – Engel als Dienstleister und Wellnessfaktor. Wie auch immer man zu ihnen stehen mag: Rottweil ist reich an Engeln. Die Feiertage bieten Gelegenheit, sie zu entdecken.
Im Alten und im Neuen Testament ist die Sache klar: Engel verweisen auf Gott. Sie geben seinen Willen zu erkennen, sie machen seinen Plan publik. Etwa der Erzengel Gabriel, der Maria kundtut, dass sie ein Kind gebären wird. Oder die Engel in Betlehem, die den Hirten die freudige Ankunft eben jenes Kindes verkünden – mitsamt dem Frieden, den dies für alle Welt bedeute.
Auch im Koran ist vielfach von Engeln die Rede, auch hier treten sie vor allem als Diener und Emissäre Gottes auf. Die Botenfunktion ist dabei jedoch nicht einseitig. So schreibt Benedikt von Nursia in seiner Ordensregel, Engel würden den Mönch ermahnen, trösten und seine Gebete und Taten vor Gott bringen, daher solle er eine besonders enge Beziehung zu ihnen pflegen.
Die katholische Kirche hat eine besondere Engel-Kompetenz aufgebaut und Engeln vielfältige Funktionen zugeschrieben. Nicht zuletzt unzählbar viele Darstellungen in der Kunst zeugen davon – bis hin zu den putzigen Kerlchen, die das Renaissance-Genie Raffael in seiner um 1512/13 geschaffenen „Sixtinischen Madonna“ auftreten lässt: eigentlich zwei Randfiguren, die aber mittlerweile Kultstatus haben und millionenfach Keksdosen und Kissenbezüge zieren: Die plüschigen Popstars unter den Engeln.
Dabei sind Engel nicht nur Ausfluss der katholischen Glaubens- und Bilderwelt. Auch auf evangelischer Seite haben sie Tradition. So predigte etwa Martin Luther regelmäßig zum Michaelistag über die Engel. Aus konfessionellen Bezügen hat sich der Engel-Kult allerdings vielfach längst gelöst. Engel sind ein übergreifendes Phänomen – und ein Indikator dafür, dass auch in einer vielfach säkularisierten, rationalisierten Welt die Menschen spirituellen Bedürfnisse haben. Einer Forsa-Umfrage zufolge jedenfalls glauben inzwischen mehr Menschen an Engel (66 Prozent) als an Gott (64 Prozent). Der Dortmunder Theologe Thomas Ruster spricht denn auch von einer regelrechten „neuen Engelreligion“.
Zu den Faktoren, die Engel dabei offenbar attraktiv machen, zählt, dass man sie pittoresk darstellen kann und dass sie dogmatisch recht offen sind. Sie können als Ausdruck von Transzendenz gedeutet werden, ohne auf einen bestimmten Inhalt festgelegt zu sein. War es früher gebräuchlich, Gott um Hilfe zu bitten, so wendet man sich heute lieber an die Engel. Sie werden mit Gott gleichgesetzt.
Ein Pluspunkt ist dabei auch ein Eindruck von Nähe: Engel werden sozusagen als Streetworker Gottes verstanden. Die pragmatische Anpassung an individuelle Sinnhorizonte geht aber noch weiter. Sie reicht bis zur völligen Loslösung von theologischen Vorstellungen. Engel werden dann zu Dienstleistern, die Wünsche erfüllen. Ihre Aufgabe ist es, das Individuum zu unterstützen, sich und seine Bedürfnisse optimal zu entwickeln – mit Überlappungen zum boomenden Gesundheits- und Selbsthilfemarkt.
Ganz gleich, welcher Lesart man zuneigt: Engel faszinieren und sie beflügeln viele Menschen. Macht man sich – ganz ohne ein theologisch-kunstgeschichtliches Arbeitsprogramm – in Rottweil auf die Suche nach Engeln, so kann man etwa in den Innenstadt-Kirchen und im Dominikanermuseum unzählige Entdeckungen machen.
Einen guten Anfangspunkt bietet, wenn sie nicht geschlossen ist, die Kapellenkirche. Blendet man das Leitthema der Innenausstattung, das um 1733 vom Asam-Schüler Joseph Fiertmair geschaffene Marienlob – etwa mit wundervollen Lebensszenen und Tugend-Allegorien – einmal aus, wuselt es in dem Sakralraum regelrecht von Engeln.
Eine besonders quirlige Versammlung lieblicher Exemplare findet sich über dem rechten Nebenaltar. Sage und schreibe 15 Putten, viele platzökonomisch reduziert auf Kopf und Flügel, drängen sich da offenbar gut gelaunt auf engem Raum – einer mehr sogar als im von Engelbert Humperdinck vertonten „Abendsegen“ aus „Des Knaben Wunderhorn“, wo die Flügelwesen den Schlummernden „zu Himmels-Paradeisen“ weisen. Den Putten in der Kapellenkirche wäre das ebenfalls zuzutrauen, wenn ihre Zusammenkunft nicht irgendwie auch ein bisschen nach Party aussehen würden.
Bei der Engel-Recherche lohnt sich zudem ein Blick auf die berühmten Skulpturen, die den Kapellenturm wie eine seitlich umgeklappte dreiportalige Schauseite umspannen, gerade aber leider von Gerüsten verstellt sind: Auf der linken Seite verkündet ein imposanter Gabriel Maria die Botschaft und Flügelwesen markieren auch die Weihnachtsszene.
Wählt man als nächste Station das Heilig-Kreuz-Münster, so machen sich im Vergleich mit der spätbarocken Überfülle der Kapellenkirche Engel zunächst etwas rar. Letztlich kann man eine stattliche Delegation aber gar nicht übersehen. Sechs Himmelsboten füllen das in der zentralen Sichtachse befindliche Maßwerkfenster des Chorraums.
Es sind mustergültige Vertreter ihrer Gattung im Sinne einer nazarenisch inspirierten Neugotik, die hier in den 1840er Jahren einzog: Ranke Gestalten mit üppiger Haarpracht in, wenn die Sonne mitspielt, leuchtend hellen Gewändern vor tiefblauem Grund. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass es sich eher um Assistenten als um Hauptpersonen handelt. Denn sie präsentieren Utensilien, die zum Leidensweg Jesu und damit zur engeren Thematik dieser Kirche gehören: Dornenkrone, Essigschwamm, Kreuz und mehr.
Aus dem links daneben platzierten Weihnachtsteil sind Engel überraschend ausgelagert. Das Segment mit der Krippendarstellung kommt ohne sie aus. Ihren Betlehem-Auftritt haben die Boten darunter: In einer grisailleartig verdunkelten Szenerie verdeutlicht ein dynamisches Flügelwesen den verdutzten Hirten, dass sich Großes zugetragen und wohin sie nun flugs zu gehen haben.
Die Predigerkirche bietet sich als dritte Station an. Sie wartet mit der größten Engeldichte in Rottweil auf – die spätbarocke Umgestaltung Mitte des 18. Jahrhunderts bahnte ihnen eine fulminante Bühne.
Wohin der Blick auch schweift, rasch wird man Himmelsboten finden – große wie den trompetenden Engel an der Kanzel, aber auch etliche kleine, die im Rankwerk der Altäre oder zwischen den Säulen des Chorraums allerhand akrobatische Stunts vollführen – manche sehen aus, wie im übermütigen Looping von einer Blitzer-Kamera erwischt. Aber auch dann sind sie noch ein Vorbild an Eleganz und Grazie. Himmlisch eben.
Ein bemerkenswertes Detail entdeckt man in einem unscheinbaren Zwickel des Deckenfreskos rechter Hand auf halber Höhe: Ein Engel skizziert dort Figuren. Die Szene wirkt wie ein Fingerzeig Joseph Wannenmachers, der die Malerei schuf, im Sinne von: an diesem Wunderwerk waren wohl Engel beteiligt. Das erinnert an die Selbstinszenierung der Handwerker im Weltgericht am Tympanon des Kapellenturms: In der Schar der Erlösten schreitet auch ein Steinmetz dem Paradies entgegen und kommt in den Himmel.
Als Schluss-Etappe auf einem Engelspaziergang empfiehlt sich, nicht nur aufgrund der Nachbarschaft zur Predigerkirche, die grandiose Sammlung Dursch im Dominikanermuseum. In der Abteilung zu Weihnachten zeigt sich etwa auf einer Tafelmalerei aus dem 15. Jahrhundert ein Gabriel mit sphärisch blau-gold-grün-schimmernden Flügeln in seiner ganzen Erzengel-Pracht.
Kuriose Varianten der Himmelsboten finden sich in einer Weihnachtsszene direkt gegenüber: Drei flauschige Federwesen schweben, das Gloria auf den Lippen, über der Krippe, obwohl nur einer überhaupt Flügel hat. In der Engelwelt ist eben nichts unmöglich.
Besonders schön sind die Himmelsboten in eine Darstellung von Christi Geburt aus Wangen aus dem Jahr 1486 eingebunden. Drei brave, adrette Boten scheinen hier dem Jesuskindlein direkt ins Ohr zu trällern. Denn sie stehen zwischen ihm und seinen Eltern – man kann das auch als schönes Bild dafür deuten, was Engel in der traditionellen Vorstellung sind: Mittler zwischen Himmel und Erde.