900 Jahre Heilig Kreuz: Rosen-Regen und Ziegel der Herren von Zimmern

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Geistliches Zentrum, glanzvolles Baudenkmal, aber auch Ort, der durch Kurioses staunen lässt: Zum 900jährigen Jubiläum von Heilig-Kreuz hat Professor Dr. Werner Mezger am Samstag im gut gefüllten Münster Streiflichter aus der Geschichte der Rottweiler Hauptkirche aufleuchten lassen – kenntnisreich, erhellend und unterhaltsam.

Eingangs nahm Mezger das Problem der Datierung in den Blick, denn es gibt zwei Jahresangaben zu den Anfängen von Heilig-Kreuz, auf die man Bezug nehmen kann: 1121 und 1122. Die Frage sei, ob man 2022 eigentlich „das richtige Jubiläum“ feiere, spitzte Werner Mezger – bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie (vormals Volkskunde) mit Schwerpunkt südwestdeutsche Regionalkultur im europäischen Kontext an der Uni Freiburg – zu.

Ist als Vorsitzender des Fördervereins Münsterbauhütte Heilig Kreuz seit Langem mit dem Münster eng verbunden: Prof. Dr. Werner Mezger, hier bei einer Führung im April. Archiv-Foto: al

Und er zeigte auf, wie heikel die Quellenlage ist: Das Einzige, worauf man sich bei der Jahresangabe 1122 berufen kann, ist eine heute verschollene Holztafel. 1662 oder später wurde sie hinten dem Hochaltar von Heilig-Kreuz angeschraubt und ihre lateinische Inschrift hat Dekan Dr. Martin Dursch 1855 noch persönlich gesehen und abgeschrieben. Sie verzeichnete als Weihedatum von Heilig-Kreuz, den 18. Januar 1122.

Worauf sich der Verfasser der Tafel mehr als ein halbes Jahrtausend nach der angeblichen Weihe, stützte, sei völlig unklar, sagte Mezger. Immerhin war der auf der Tafel verzeichnete Ulrich I. von Kyburg-Dillingen von 1111 bis 1127 Bischof von Konstanz – die mit 1122 angesetzte Weihe fiele also tatsächlich in seine Amtszeit.

Mit diesem Argumentationsgang könnte man es bewenden lassen. Für Verwirrung sorgt allerdings ein Büchlein der Heilig-Kreuz-Bruderschaft aus dem 18. Jahrhundert. Dieses nennt als Weihedatum nicht den Januar 1122, sondern den Januar 1121. Mezger löste die Ungereimtheit freilich rasch auf. Er zeigte, dass es unterschiedliche Systeme gab, den Jahresanfang festzulegen. Im „Natalstil“ war das Stichdatum Weihnachten oder Dreikönig, im  „Paschalstil“ Ostern. Der Unterscheid zwischen den Quellen liege wahrscheinlich nur an der Zählweise – und beide meinen letztlich genau dasselbe Jahr, schlussfolgerte er.

Dass die neue Kirche in der gerade gegründeten Stadt das Patrozinium „Heilig Kreuz“ erhielt, entsprach, wie Mezger  erläuterte, dem Geist der Epoche, deren zentrales Thema die Kreuzzüge waren. Ob jedoch, wie gelegentlich vermutet, tatsächlich Bernhard von Clairvaux in den 1140er Jahren in Heilig Kreuz gepredigt und zum zweiten Kreuzzug aufgerufen hat, sei reine Spekulation, unterstrich Mezger.

Das neue Gotteshaus war zunächst nur eine Filialkirche von St. Pelagius in der Altstadt. Erst nach und nach löste es sich aus deren Schatten. Das erste Gebäude war wohl teilweise noch aus Holz, berichtete Werner Mezger. Die Ausmaße seien trotzdem schon stattlich gewesen. Zur Südseite hin schloss sich ein Friedhof an. Erst 1580 wurde er zu klein, auf dem Bockshof entstand daher ein neues Begräbnisfeld mit der Lorenzkapelle als eigener Friedhofskirche.

Baulicher Ehrgeiz entfaltete sich bei Heilig Kreuz erst ab etwa 1400. Herausgefordert von der ab 1330 im „französischen Stil“ erbauten Kapellenkirche der Bürgerschaft, wollte die Diözese nun auch bei der Pfarrkirche nicht nachstehen. In einer ersten Bauphase entstand der Chor im gotischen Stil. Sein Gewölbe war 16 Meter hoch, die Firsthöhe betrug über 30 Meter.

Blick in die filigranen hochgotischen Gewölbestrukturen. Archivfoto: al

Dann ruhten die Arbeiten, was damals auch in anderen Städten nicht außergewöhnlich war, wie Mezger darlegt. Selbst in Köln, wo vom Dom bis ins 19. Jahrhundert nur der Chor und die Turmstümpfe in die Höhe ragten. Die gotische Umgestaltung des Langhauses von Heilig Kreuz ließ nicht ganz so lange auf sich warten. Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts entstand der Kirchenraum mit seiner filigranen Säulenarchitektur, wie man ihn heute kennt. Mezger blieb seinem Spezial-Thema Fasnacht treu und verwies darauf, dass sich im 1497 eingewölbte Südschiff auch die allererste Narrendarstellung in Rottweil findet: ein Narr mit Dudelsack und Hund, der aber wohl noch kein Rottweiler ist.

Sah äußerlich bereits weitgehend aus wie heute: Heilig Kreuz auf der Pürschgerichtskarte von David Rötlin. Foto: al

1534 kam die spätere Nepomuk-Kapelle hinzu. Zudem wurde der Turm aufgestockt und über dem Glockenstuhl in 75 Metern Höhe mit einem spitzen Helm abgeschlossen. Darauf pflanzte man noch ein sieben Meter hohes Kreuz als Hinweis auf das Patrozinium. „Als dann David Rötlin 1564 vom Kapellenturm aus seine Pürschgerichtskarte zeichnete, wo er sämtliche Gebäude der Stadt akribisch festhielt, sah die Heilig Kreuz-Kirche von außen praktisch schon genauso aus wie heute“, bilanzierte Mezger.

Zum kirchlichen Leben in Heilig Kreuz zeigte er spannende Facetten auf. So hatten alle Seitenkapellen Altäre, um die sich Bruderschaften und Zünfte kümmerten und an denen oft mehrere Priester gleichzeitig die Messe lasen. Auch gab es Beispiele spektakulärer Formen der Volksfrömmigkeit. Mezger verwies etwa auf im Gewölbe des Mittelschiffs noch heute sichtbare Öffnungen. Diese diese dienten als „Auffahrtsloch“ und „Heiliggeistloch“: Dort hinauf wurde an Christi Himmelfahrt die Statue des auferstandenen Christus gezogen, bis sie den Blicken der Gläubigen entschwand, berichtete der Volkskundler. Und von dort herunter flatterten an Pfingsten Rosenblätter oder es schwebten Flocken mit brennendem Werg herab, um an die Feuerzungen des Heiligen Geistes zu erinnern.

Mezger sparte auch die schmerzlichen Kapitel der Reformationswirren nicht aus, die in Rottweil eng mit Heilig Kreuz verflochten waren. Deren Pfarrer Konrad Stücklin bekannte sich 1526 offen zu Martin Luther und Huldrych Zwingli in Zürich und predigte evangelisch. Der Rat der Stadt jedoch stellte sich mehrheitlich gegen Stücklin und die Reformation. Als die Zahl der Reformierten in Rottweil 1528 zunahm, drohte Erzherzog Ferdinand mit dem Entzug des Hofgerichts. Es gärte in der Stadt, wie Mezger anschaulich schilderte. Nach einer bürgerkriegsartigen Zuspitzung wurden bis August 1529 an die 500 Reformierte schließlich ausgewiesen.

Im für die Stadt und die Region katastrophalen Dreißigjährigen Krieg sei eher die Dominikanerkirche mit ihrer wundertätigen Madonna spirituelles Zentrum gewesen als Heilig Kreuz, erklärte Mezger. 1696 brach dann die nächste Katastrophe über Rottweil herein: Durch die Unvorsichtigkeit einer Magd in der Waldtorstraße kam es zu einem Stadtbrand, dessen verheerende Bilanz 96 zerstörte Häuser und eine schwer beschädigte Pfarrkirche waren.

Heilig Kreuz hatte den gesamten Dachstuhl verloren, im Turm waren die Glocken geschmolzen und abgestürzt. Wie durch ein Wunder hatten die wertvollen Gewölbe weitgehend gehalten. Aber ohne schützendes Dach waren sie Wind und Wetter ausgesetzt. „Man wusste, den Winter würden sie nicht überstehen“, verdeutlichte Mezger die Dramatik der Situation. Da taten sich die Rottweiler, vor allem die Zünfte, in einem Kraftakt zusammen, und sie schafften es unter unglaublichem Einsatz tatsächlich, den gesamten Dachstuhl wieder aufzurichten und mit Ziegeln zu decken.

Die holte man übrigens, wie Mezger berichtete, von der verwaisten Burg Herrenzimmern, wo die Ziegel in drei Schichten auf dem Dach lagen. Als das Geschlecht der Grafen von Zimmern 1594 ausgestorben war, hatte Rottweil die Burg gekauft. Mit den dortigen Ziegeln war Heiligkreuz gerettet, die Burg über dem Neckartal indes zerfiel.

1802 endete die Reichsstadtzeit. Die Folgen waren, wie Mezger verdeutlichte, tiefgreifend – nicht zuletzt für die Rottweiler Kirchen. Das Dominikanerkloster wurde säkularisiert. Die Predigerkirche, kurz zuvor noch spätbarock umgestaltet, wurde Garnisonskirche, dann evangelische Stadtkirche. Die wundertätige Madonna von der Augenwende fand in Heilig Kreuz eine neue Heimat.

Fand nach Ende der Reichstadtzeit in Heilig Kreuz eine neue Heimat: die Madonna von der Augenwende. Foto: al

In der Folgezeit konzentrierte sich das katholische Leben in Heilig Kreuz. 1809 drohte allerdings wieder Gefahr: Der Blitz schlug in den Turm, binnen kurzer Zeit brannte der Helm lichterloh. Ein paar beherzte Männer jedoch handelten, wie Werner Mezger hervorhob, bewundernswert schnell: Sie kletterten in den Helm und sägten die brennende Spitze ab. „Diese unglaubliche Heldentat verdient heute noch größten Respekt“, betonte Mezger.

Um die Jahrhundertmitte ergab sich für Heilig Kreuz dann, wie der Volkskundler fast euphorisch ausführte, „der große Glücksfall“: Zu Beginn der 1840er Jahre erhielt die Kirche, dem Zeitgeschmack entsprechend, ihr ursprüngliches Erscheinungsbild zurück. Carl Alexander Heideloff, einer der großen Regotisierer in Deutschland, erweckte die Gotik von Heilig Kreuz zu neuem Leben – „und zwar schöner als je zuvor“, wie Mezger meinte. Heideloff ersetzte die Ausstattung weitgehend durch wertvollste originale Werke der Gotik, die er auf dem Kunstmarkt erwarb.

Höhepunkt war der Kruzifixus für den Hochaltar, wohl ein Meisterwerk von Veit Stoß. Der Großteil der Kirchenfenster wurde mit Glasgemälden in gotischer Manier farbig leuchtend gestaltet. Und zu Heideloff kam dann noch ein zweiter Glücksfall: der Pfarrer von Heiligkreuz Dekan Dr. Martin Dursch. Dieser große Kunstkenner und Gotik-Sammler, der auch die Tafel mit dem Weihedatum hinter dem Hochaltar abgeschrieben hatte, unterstütze Heideloffs Regotisierung.

1943 erfolgte – mit Bezug auf die Geschehnisse von 1643 – eine Weihe der Stadt an die Gottesmutter. Foto: al

Die jüngere Geschichte sprach Mezger nur knapp an. Etwa, dass 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, der damalige Stadtpfarrer Carl Leiprecht am Marienaltar in Erinnerung an die Ereignisse von 1643 eine erneute Weihe der Stadt an die Gottesmutter Maria vollzog. Oder dass 1952, Leiprecht, mittlerweile achter Bischof von Rottenburg, Heilig Kreuz zum Münster erhoben. Auch die 2017 abgeschlossene letzte große Restaurierung rief er in Erinnerung. Dank dieses Kraftakts strahle das Münster wieder, „in neuem Glanz und wunderbarem Licht“ – rechtzeitig zum Jubiläum.

„Das Münster, war und ist Heimat in guten wie in schlechten Zeiten“, resümierte Mezger abschließend. Es sei „weit mehr als ein besonders authentisches Museum für Sakralkunst“, auch wenn es „beim Durchmarsch der Testturmtouristen“ gelegentlich so scheine. Heilig Kreuz sei nach wie vor in erster Linie lebendige Kirche, geistliches Zentrum, Stätte der Andacht, Oase der Stille, Meditationsort, um zu sich selbst zu finden. „Hier, wo neun Jahrhunderte auf uns herabblicken, wird spürbar, dass Kirchen eine Schnittstelle zwischen Zeit und Ewigkeit sind“, schloss Werner Mezger seinen brillanten Festvortrag zum Jubiläum.

Der Festvortrag Prof. Dr. Werner Mezgers war ein Höhepunkt der Feierlichkeiten zum 900jährigen Jubiläum. Archiv-Foto: al

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Stefan Weidle
Stefan Weidle
2 Jahre her

Ja, wenn man so ergriffen durch die Erhabenheit der Jahrhunderte wandelt, dann zieht man auf der Zielgeraden der „jüngeren Geschichte“, gerne mal ein bisschen das Tempo an.
Jedoch auch dies dürfte in 900 Jahren, zu jeder Zeit, ein Zeichen der Zeit gewesen sein.

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Geistliches Zentrum, glanzvolles Baudenkmal, aber auch Ort, der durch Kurioses staunen lässt: Zum 900jährigen Jubiläum von Heilig-Kreuz hat Professor Dr. Werner Mezger am Samstag im gut gefüllten Münster Streiflichter aus der Geschichte der Rottweiler Hauptkirche aufleuchten lassen – kenntnisreich, erhellend und unterhaltsam.

Eingangs nahm Mezger das Problem der Datierung in den Blick, denn es gibt zwei Jahresangaben zu den Anfängen von Heilig-Kreuz, auf die man Bezug nehmen kann: 1121 und 1122. Die Frage sei, ob man 2022 eigentlich „das richtige Jubiläum“ feiere, spitzte Werner Mezger – bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie (vormals Volkskunde) mit Schwerpunkt südwestdeutsche Regionalkultur im europäischen Kontext an der Uni Freiburg – zu.

Ist als Vorsitzender des Fördervereins Münsterbauhütte Heilig Kreuz seit Langem mit dem Münster eng verbunden: Prof. Dr. Werner Mezger, hier bei einer Führung im April. Archiv-Foto: al

Und er zeigte auf, wie heikel die Quellenlage ist: Das Einzige, worauf man sich bei der Jahresangabe 1122 berufen kann, ist eine heute verschollene Holztafel. 1662 oder später wurde sie hinten dem Hochaltar von Heilig-Kreuz angeschraubt und ihre lateinische Inschrift hat Dekan Dr. Martin Dursch 1855 noch persönlich gesehen und abgeschrieben. Sie verzeichnete als Weihedatum von Heilig-Kreuz, den 18. Januar 1122.

Worauf sich der Verfasser der Tafel mehr als ein halbes Jahrtausend nach der angeblichen Weihe, stützte, sei völlig unklar, sagte Mezger. Immerhin war der auf der Tafel verzeichnete Ulrich I. von Kyburg-Dillingen von 1111 bis 1127 Bischof von Konstanz – die mit 1122 angesetzte Weihe fiele also tatsächlich in seine Amtszeit.

Mit diesem Argumentationsgang könnte man es bewenden lassen. Für Verwirrung sorgt allerdings ein Büchlein der Heilig-Kreuz-Bruderschaft aus dem 18. Jahrhundert. Dieses nennt als Weihedatum nicht den Januar 1122, sondern den Januar 1121. Mezger löste die Ungereimtheit freilich rasch auf. Er zeigte, dass es unterschiedliche Systeme gab, den Jahresanfang festzulegen. Im „Natalstil“ war das Stichdatum Weihnachten oder Dreikönig, im  „Paschalstil“ Ostern. Der Unterscheid zwischen den Quellen liege wahrscheinlich nur an der Zählweise – und beide meinen letztlich genau dasselbe Jahr, schlussfolgerte er.

Dass die neue Kirche in der gerade gegründeten Stadt das Patrozinium „Heilig Kreuz“ erhielt, entsprach, wie Mezger  erläuterte, dem Geist der Epoche, deren zentrales Thema die Kreuzzüge waren. Ob jedoch, wie gelegentlich vermutet, tatsächlich Bernhard von Clairvaux in den 1140er Jahren in Heilig Kreuz gepredigt und zum zweiten Kreuzzug aufgerufen hat, sei reine Spekulation, unterstrich Mezger.

Das neue Gotteshaus war zunächst nur eine Filialkirche von St. Pelagius in der Altstadt. Erst nach und nach löste es sich aus deren Schatten. Das erste Gebäude war wohl teilweise noch aus Holz, berichtete Werner Mezger. Die Ausmaße seien trotzdem schon stattlich gewesen. Zur Südseite hin schloss sich ein Friedhof an. Erst 1580 wurde er zu klein, auf dem Bockshof entstand daher ein neues Begräbnisfeld mit der Lorenzkapelle als eigener Friedhofskirche.

Baulicher Ehrgeiz entfaltete sich bei Heilig Kreuz erst ab etwa 1400. Herausgefordert von der ab 1330 im „französischen Stil“ erbauten Kapellenkirche der Bürgerschaft, wollte die Diözese nun auch bei der Pfarrkirche nicht nachstehen. In einer ersten Bauphase entstand der Chor im gotischen Stil. Sein Gewölbe war 16 Meter hoch, die Firsthöhe betrug über 30 Meter.

Blick in die filigranen hochgotischen Gewölbestrukturen. Archivfoto: al

Dann ruhten die Arbeiten, was damals auch in anderen Städten nicht außergewöhnlich war, wie Mezger darlegt. Selbst in Köln, wo vom Dom bis ins 19. Jahrhundert nur der Chor und die Turmstümpfe in die Höhe ragten. Die gotische Umgestaltung des Langhauses von Heilig Kreuz ließ nicht ganz so lange auf sich warten. Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts entstand der Kirchenraum mit seiner filigranen Säulenarchitektur, wie man ihn heute kennt. Mezger blieb seinem Spezial-Thema Fasnacht treu und verwies darauf, dass sich im 1497 eingewölbte Südschiff auch die allererste Narrendarstellung in Rottweil findet: ein Narr mit Dudelsack und Hund, der aber wohl noch kein Rottweiler ist.

Sah äußerlich bereits weitgehend aus wie heute: Heilig Kreuz auf der Pürschgerichtskarte von David Rötlin. Foto: al

1534 kam die spätere Nepomuk-Kapelle hinzu. Zudem wurde der Turm aufgestockt und über dem Glockenstuhl in 75 Metern Höhe mit einem spitzen Helm abgeschlossen. Darauf pflanzte man noch ein sieben Meter hohes Kreuz als Hinweis auf das Patrozinium. „Als dann David Rötlin 1564 vom Kapellenturm aus seine Pürschgerichtskarte zeichnete, wo er sämtliche Gebäude der Stadt akribisch festhielt, sah die Heilig Kreuz-Kirche von außen praktisch schon genauso aus wie heute“, bilanzierte Mezger.

Zum kirchlichen Leben in Heilig Kreuz zeigte er spannende Facetten auf. So hatten alle Seitenkapellen Altäre, um die sich Bruderschaften und Zünfte kümmerten und an denen oft mehrere Priester gleichzeitig die Messe lasen. Auch gab es Beispiele spektakulärer Formen der Volksfrömmigkeit. Mezger verwies etwa auf im Gewölbe des Mittelschiffs noch heute sichtbare Öffnungen. Diese diese dienten als „Auffahrtsloch“ und „Heiliggeistloch“: Dort hinauf wurde an Christi Himmelfahrt die Statue des auferstandenen Christus gezogen, bis sie den Blicken der Gläubigen entschwand, berichtete der Volkskundler. Und von dort herunter flatterten an Pfingsten Rosenblätter oder es schwebten Flocken mit brennendem Werg herab, um an die Feuerzungen des Heiligen Geistes zu erinnern.

Mezger sparte auch die schmerzlichen Kapitel der Reformationswirren nicht aus, die in Rottweil eng mit Heilig Kreuz verflochten waren. Deren Pfarrer Konrad Stücklin bekannte sich 1526 offen zu Martin Luther und Huldrych Zwingli in Zürich und predigte evangelisch. Der Rat der Stadt jedoch stellte sich mehrheitlich gegen Stücklin und die Reformation. Als die Zahl der Reformierten in Rottweil 1528 zunahm, drohte Erzherzog Ferdinand mit dem Entzug des Hofgerichts. Es gärte in der Stadt, wie Mezger anschaulich schilderte. Nach einer bürgerkriegsartigen Zuspitzung wurden bis August 1529 an die 500 Reformierte schließlich ausgewiesen.

Im für die Stadt und die Region katastrophalen Dreißigjährigen Krieg sei eher die Dominikanerkirche mit ihrer wundertätigen Madonna spirituelles Zentrum gewesen als Heilig Kreuz, erklärte Mezger. 1696 brach dann die nächste Katastrophe über Rottweil herein: Durch die Unvorsichtigkeit einer Magd in der Waldtorstraße kam es zu einem Stadtbrand, dessen verheerende Bilanz 96 zerstörte Häuser und eine schwer beschädigte Pfarrkirche waren.

Heilig Kreuz hatte den gesamten Dachstuhl verloren, im Turm waren die Glocken geschmolzen und abgestürzt. Wie durch ein Wunder hatten die wertvollen Gewölbe weitgehend gehalten. Aber ohne schützendes Dach waren sie Wind und Wetter ausgesetzt. „Man wusste, den Winter würden sie nicht überstehen“, verdeutlichte Mezger die Dramatik der Situation. Da taten sich die Rottweiler, vor allem die Zünfte, in einem Kraftakt zusammen, und sie schafften es unter unglaublichem Einsatz tatsächlich, den gesamten Dachstuhl wieder aufzurichten und mit Ziegeln zu decken.

Die holte man übrigens, wie Mezger berichtete, von der verwaisten Burg Herrenzimmern, wo die Ziegel in drei Schichten auf dem Dach lagen. Als das Geschlecht der Grafen von Zimmern 1594 ausgestorben war, hatte Rottweil die Burg gekauft. Mit den dortigen Ziegeln war Heiligkreuz gerettet, die Burg über dem Neckartal indes zerfiel.

1802 endete die Reichsstadtzeit. Die Folgen waren, wie Mezger verdeutlichte, tiefgreifend – nicht zuletzt für die Rottweiler Kirchen. Das Dominikanerkloster wurde säkularisiert. Die Predigerkirche, kurz zuvor noch spätbarock umgestaltet, wurde Garnisonskirche, dann evangelische Stadtkirche. Die wundertätige Madonna von der Augenwende fand in Heilig Kreuz eine neue Heimat.

Fand nach Ende der Reichstadtzeit in Heilig Kreuz eine neue Heimat: die Madonna von der Augenwende. Foto: al

In der Folgezeit konzentrierte sich das katholische Leben in Heilig Kreuz. 1809 drohte allerdings wieder Gefahr: Der Blitz schlug in den Turm, binnen kurzer Zeit brannte der Helm lichterloh. Ein paar beherzte Männer jedoch handelten, wie Werner Mezger hervorhob, bewundernswert schnell: Sie kletterten in den Helm und sägten die brennende Spitze ab. „Diese unglaubliche Heldentat verdient heute noch größten Respekt“, betonte Mezger.

Um die Jahrhundertmitte ergab sich für Heilig Kreuz dann, wie der Volkskundler fast euphorisch ausführte, „der große Glücksfall“: Zu Beginn der 1840er Jahre erhielt die Kirche, dem Zeitgeschmack entsprechend, ihr ursprüngliches Erscheinungsbild zurück. Carl Alexander Heideloff, einer der großen Regotisierer in Deutschland, erweckte die Gotik von Heilig Kreuz zu neuem Leben – „und zwar schöner als je zuvor“, wie Mezger meinte. Heideloff ersetzte die Ausstattung weitgehend durch wertvollste originale Werke der Gotik, die er auf dem Kunstmarkt erwarb.

Höhepunkt war der Kruzifixus für den Hochaltar, wohl ein Meisterwerk von Veit Stoß. Der Großteil der Kirchenfenster wurde mit Glasgemälden in gotischer Manier farbig leuchtend gestaltet. Und zu Heideloff kam dann noch ein zweiter Glücksfall: der Pfarrer von Heiligkreuz Dekan Dr. Martin Dursch. Dieser große Kunstkenner und Gotik-Sammler, der auch die Tafel mit dem Weihedatum hinter dem Hochaltar abgeschrieben hatte, unterstütze Heideloffs Regotisierung.

1943 erfolgte – mit Bezug auf die Geschehnisse von 1643 – eine Weihe der Stadt an die Gottesmutter. Foto: al

Die jüngere Geschichte sprach Mezger nur knapp an. Etwa, dass 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, der damalige Stadtpfarrer Carl Leiprecht am Marienaltar in Erinnerung an die Ereignisse von 1643 eine erneute Weihe der Stadt an die Gottesmutter Maria vollzog. Oder dass 1952, Leiprecht, mittlerweile achter Bischof von Rottenburg, Heilig Kreuz zum Münster erhoben. Auch die 2017 abgeschlossene letzte große Restaurierung rief er in Erinnerung. Dank dieses Kraftakts strahle das Münster wieder, „in neuem Glanz und wunderbarem Licht“ – rechtzeitig zum Jubiläum.

„Das Münster, war und ist Heimat in guten wie in schlechten Zeiten“, resümierte Mezger abschließend. Es sei „weit mehr als ein besonders authentisches Museum für Sakralkunst“, auch wenn es „beim Durchmarsch der Testturmtouristen“ gelegentlich so scheine. Heilig Kreuz sei nach wie vor in erster Linie lebendige Kirche, geistliches Zentrum, Stätte der Andacht, Oase der Stille, Meditationsort, um zu sich selbst zu finden. „Hier, wo neun Jahrhunderte auf uns herabblicken, wird spürbar, dass Kirchen eine Schnittstelle zwischen Zeit und Ewigkeit sind“, schloss Werner Mezger seinen brillanten Festvortrag zum Jubiläum.

Der Festvortrag Prof. Dr. Werner Mezgers war ein Höhepunkt der Feierlichkeiten zum 900jährigen Jubiläum. Archiv-Foto: al

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