Ein Einzelhändler im Landkreis Rottweil hat seit ein paar Wochen ein ungutes Gefühl, wenn er durch die Regalreihen seines Ladens geht. Findet er doch immer wieder für ihn erschreckende Zettel. „Juden sind hier unerwünscht“, ist etwa ein altes Schild abgebildet. Und „Juden werden hier nicht bedient“, steht dort in Frakturschrift. Das alles, offenbar, weil der Einzelhändler die Maskenpflicht in seinem Geschäft strikt umsetzt. Hier wird dem Ladeninhaber Diskriminierung vorgeworfen, werden Corona-Maßnahmen von einem unbekannten Mitbürger mit der Judenverfolgung im Dritten Reich gleichgesetzt. Ob das opportun, ob das erlaubt ist, wollen wir von verschiedenen Experten einordnen lassen.
Der Unbekannte, der die Zettel im Laden des Einzelhändlers auslegt, tut das seit etwa zwei Wochen. Bislang sechsmal. Immer DIN-A-4-Blätter, die an unterschiedlichen Stellen im Laden auftauchen. Immer ziehen sie die Verbindung von der strikt angeordneten Maskenpflicht zur Judenverfolgung. Hintergrund, so vermutet es der Ladeninhaber selbst, der sich an die NRWZ gewandt hat, ist, dass er per Aushang nicht nur das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes von seinen Kunden verlangt. Sondern dass er – mit Verweis auf sein Hausrecht – auch kein ärztliches Attest akzeptiere.
Er habe beobachtet, berichtet der Einzelhändler der NRWZ, dass es nicht etwa ältere Menschen seien oder Behinderte, die sich per ärztlichem Attest von der Maskenpflicht befreien lassen wollten. „Das sind die Jüngeren“, hat er beobachtet. „Wenn das 85-jährige Mütterlein kommen würde, ohne Maske oder halt unter der Nase… niemals würde ich vom Hausrecht Gebrauch machen“, so der Händler.
Der Einzelhändler sagt:
Die Maskenpflicht soll die Träger und andere schützen. Für die Attestler gilt das wohl nicht. Die sind sich selbst am wichtigsten. Und es gibt einen Unterschied, ob ich bei der Arbeit 40 Stunden eine Maske trage, oder zum Einkaufen 15 oder 30 Minuten lang.
N.N., Einzelhändler im Landkreis Rottweil
Die Geschichte hat also eine rechtliche, eine medizinische und eine geschichtliche Dimension.
Die rechtliche Seite
… hat die Antidiskriminierungsstelle des Bundes herausgearbeitet. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) schützt nach deren Erklärung Kundinnen und Kunden davor, wegen einer Behinderung benachteiligt zu werden. „Im Zusammenhang mit der Maskenpflicht können sich insoweit nur diejenigen auf das AGG berufen, denen das Tragen der Maske wegen einer Behinderung nicht möglich ist“, so die Antidiskriminierungsstelle. Eine Behinderung liegt demnach bei langfristigen körperlichen, seelischen oder geistigen Beeinträchtigungen vor, welche die Betroffenen in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern.
Wenn Kunden wegen einer vorübergehenden Erkrankung keine Maske tragen können oder wegen einer chronischen Erkrankung, die sie normalerweise nicht an der gesellschaftlichen Teilhabe hindert, können sie sich dagegen nicht auf das AGG berufen.
Grundsätzlich sind Betreiber im Groß- und Einzelhandel wegen des Hausrechts frei in der Entscheidung, ob und in welchem Umfang Personen Zugang zu ihren Räumen gestattet wird – innerhalb der vom AGG gesetzten Grenzen. Die Ausübung darf nicht dazu führen, dass Personen wegen ihrer Behinderung, Herkunft, sexuellen Identität oder Religion, wegen ihres Alters oder Geschlechts nach dem AGG benachteiligt werden. Eine solche Benachteiligung liegt allerdings dann nicht vor, wenn die Maskenpflicht sachlich gerechtfertigt werden kann und diese Regelung angemessen und erforderlich ist. Ein sachliches und auch wichtiges Ziel liegt hier vor, da die Maskenpflicht Kunden und Beschäftigte vor Neuinfektionen schützt sowie insgesamt die Verbreitung des Corona-Virus eindämmt. Sagt die Antidiskriminierungsstelle weiter. Allerdings versuche man, Kompromisse zu finden im Streit zwischen Kunden und Einzelhändlern. Es geht dann doch um Ausnahmeregelungen. So etwa, dass der Ladeninhaber frisch desinfizierte Visiere für die Dauer des Einkaufs all jenen anbietet, die keinen Mund-Nasen-Schutz tragen können.
Die NRWZ hat zudem rasch bei großen Einzelhändlern mit Filialen im Kreis Rottweil nachgefragt – ob sie solche Fälle kennen. Ein Sprecher von Aldi antwortet etwa: „Aktuell sind uns solche oder ähnliche Vorkommnisse in unseren Filialen nicht bekannt. Ebenso liegen uns diesbezüglich keine Kundenbeschwerden vor.“ Und einer von Edeka: „Ein Fall wie der beschriebene ist uns nicht bekannt.“ Lidl erklärt: „Die von Ihnen genannten Flyer sind uns nicht bekannt und es liegen diesbezüglich keine Beschwerden vor.“
Ausführlich antwortet Kaufland. Eine Sprecherin schreibt:
In allen Bundesländern stehen wir mit den zuständigen Behörden in Kontakt und setzen alles daran, die regional unterschiedlichen behördlich auferlegten Verordnungen zeitnah und pragmatisch umzusetzen.
Wir haben die Pflicht, unsere Kunden über die Einhaltung der Maskenpflicht in Einzelhandelsbetrieben zu informieren. Dieser Pflicht kommen wir selbstverständlich durch Aushänge, Bodenaufkleber und Durchsagen nach.
Kunden, die keine Maske tragen, weisen wir freundlich auf die Verordnung hin. Sofern sie keinen in der jeweiligen Verordnung vorgesehen Ausnahmegrund vorbringen können, bitten wir sie um Verständnis, dass das Tragen einer entsprechenden Maske verpflichtend für den Aufenthalt in Einzelhandelsgeschäften ist. Die überwiegende Mehrzahl unserer Kunden richtet sich nach dieser Verordnung und trägt eine Maske. Darüber hinaus hat Kaufland – im Gegensatz zu Ordnungsbehörden oder der Polizei – jedoch keine Möglichkeiten, das Tragen einer Maske einzufordern. Gegebenenfalls machen wir von unserem Hausrecht Gebrauch.
Kaufland, Pressestelle
Die medizinische Dimension
… lassen wir uns von Dr. Jochen Scherler erklären, dem Vorsitzenden der Kreisärzteschaft. Er wolle in aller Kürze antworten, leitet der Arzt ein. „Es gibt nur wenige schwerwiegende Indikationen für die Aufhebung der Maskenpflicht“, sagt er. Die meisten Atteste seien demnach Gefälligkeitsatteste – und könnten für den Nichtträger und den ausstellenden Arzt schwerwiegende Konsequenzen haben. „Bis zum Vorwurf der fahrlässigen Tötung“, so Scherler.
„Das Hausrecht ist auf der Seite des Ladeninhabers“, urteilt Scherler weiter. „Er muss sich und seine Angestellten schützen.“ Ein kurzfristiges Tragen einer Maske im geschlossenen Raum sei fast immer vertretbar. „Nur Personen mit stark erniedrigter Sauerstoffsättigung könnten Probleme haben – die gehen jedoch eher selten einkaufen“, so seine ärztliche Sicht.
Scherlers Fazit:
Eine Maske ist kein Stigma, sondern soll den Träger und sein Gegenüber schützen. Dies mit einem Judenstern und mit Ausgrenzung und Verfolgung zu vergleichen, ist so absurd …, dass ich es nicht kommentieren kann.
Dr. Jochen Scherler, Vorsitzender der Kreisärzteschaft Rottweil
Die geschichtliche Einordnung
… lassen wir zwei Menschen vornehmen. Zunächst Johanna Knaus, Vorsitzende des Vereins Ehemalige Synagoge Rottweil. Sie hat nicht rasch und spontan geantwortet, sondern zunächst mit ihren Vorstandskollegen Rücksprache gehalten. Ihre direkte Reaktion wäre vielleicht etwas milder ausgefallen, meint sie, aber das Folgende sei Haltung des Vereins:
„Juden sind hier unerwünscht“ und „Juden werden hier nicht bedient“. Zitate aus der Zeit des Nationalsozialismus werden in der Coronazeit immer wieder herausgeholt und instrumentalisiert. Offensichtlich auch dann, wenn ein Einzelhändler in Rottweil die Coronaregeln sehr strikt umsetzt und sich auf sein Hausrecht beruft. Auch er hat das Recht auf größtmöglichen Schutz.
Soll er mit diesen Handzetteln dafür kompromittiert und in die rechte Ecke geschoben werden? Wer hat Interesse daran dies anonym zu machen?
Hier scheint sich jemand ausgegrenzt zu fühlen. Dieses Gefühl ist ernst zu nehmen. Vielleicht kann der Kaufmann sich ja dazu durchringen, ärztliche Atteste zu akzeptieren, selbst wenn die seltene und kundenbezogene Prüfung einen Mehraufwand bedeutet?
Die Verwendung obiger Zitate für das Verhalten des Einzelhändlers zeigt, dass der Absender die Dimension der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten offensichtlich noch nicht erfasst hat. Diese verbale Hetze gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger war erst der Anfang für das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte.
Es ist nicht akzeptabel, Coronaschutzmaßnahmen gleichzusetzen mit den Demütigungen, der Herabwürdigung, dem Ausschluss aus der Zivilgesellschaft, dem Entzug der Menschenrechte. Dies alles wurde der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus angetan und mündete in den Gräueln der Massenvernichtung. Das Aufgreifen dieser oder ähnlicher Aussagen verharmlost dies. Wer dies bewusst macht, zeigt offenen Antisemitismus. Dies ist nicht zu tolerieren und wirft die Frage auf, ob dies nicht zur Anzeige gebracht werden sollte.
Johanna Knaus, Vorsitzende des Vereins Ehemalige Synagoge Rottweil
Der Vorsitzende des Gedenkstättenverbunds Gäu-Neckar-Alb, Heinz Högerle, macht es kurz. Er hat eine eindeutige Haltung zu dem Vorkommnis, zu den ausgelegten Zetteln bei dem Einzelhändler.
Die Sache scheint mir eindeutig. Es ist stets eine Ungeheuerlichkeit, wenn Coronaleugner sich zu Opfern stilisieren und sich mit den im NS-Staat verfolgten Jüdinnen und Juden vergleichen.
Heinz Högerle, Vorsitzender des Gedenkstättenverbunds Gäu-Neckar-Alb
Update: die Polizei ermittelt
Der Einzelhändler hat mittlerweile, wie ihm von der Vorsitzenden des Vereins Ehemalige Synagoge Rottweil geraten, den Fall zur Anzeige gebracht. Die Kriminalpolizei ermittelt.