Der Fall ist umfangreich für einen Amtsgerichtsprozess. Zwei Verhandlungstage – das gibt es in der Instanz, die sich oft mit Fahrern ohne Führerschein und Trunkenbolden im Verkehr befasst, nicht oft. Viele der Prozesse sind auf ein, zwei Stunden angesetzt. Nicht so dieser Fall, der den gesamten Mittwochmorgen einnahm.
Es geht um das vermeintliche Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 34 Fällen. Genauer: Um prekär beschäftigte ungelernte polnische Arbeiter auf Baustellen in Süddeutschland, denen irgendwann der Kragen platzt – falls sie nicht selbst Dreck am Stecken haben. Es geht um Firmenkonstrukte im Fassadenbau bis hin zu Sub-Sub-Sub-Unternehmen.
Das sind offenbar Konstrukte mit einem braun gebrannten Privatier auf der einen und trinkenden Arbeitern auf der anderen Seite, die wenig verdienen und davon noch Gebühren und Miete abdrücken müssen. Und es geht um einen der Schwarz-Beschäftigung beschuldigten, psychisch angeschlagenen und hoch verschuldeten 60-Jährigen irgendwo dazwischen. Der Prozess soll zeigen, ob er tatsächlich Täter oder doch nur Opfer ist.
2015 war’s, in einer süddeutschen Stadt. Der Zoll bekommt einen Hinweis, dass es auf einer Baustelle nicht mit rechten Dingen zugehen könnte. Kommissar Zufall spielt da mit: Eine in der Nachbarschaft wohnende Dame spricht Polnisch, unterhält sich mit den Arbeitern. Und ihr Sohn ist beim Zoll. Sie gibt ihm einen Wink.
Die Zollbeamten kommen unangemeldet, wie es ihre Art ist, und sie holen die mit Fassadenarbeiten beschäftigten Bauarbeiter von den Gerüsten. Prüfen alle Papiere. Sie finden ‚zig Männer polnischer Staatsangehörigkeit, die nur bruchstückhaft deutsch können, wenn überhaupt, und die allesamt ein Gewerbe angemeldet haben. Also selbstständige Unternehmer sind. Zu sein scheinen.
Drei von ihnen kommen Tage nach der Kontrolle selbst beim Zoll vorbei. Sie waren nach eigenen Angaben schon bei der Polizei, beschuldigen ihren Auftraggeber des Betrugs. Er schulde ihnen Lohn. Der Zoll, der die Aussagen der drei aufnimmt, findet heraus, dass sie nach Stunden bezahlt werden. Dass sie die Anweisungen, welche Arbeiten sie wo zu erledigen hätten, von diesem Auftraggeber erhalten hätten. Dass sie ihm Rechnungen gestellt und ihr Geld in bar auf die Hand bekommen hätten. Bis zu 1900 Euro netto. Geld, von dem sie auch Miete für ihre Unterkunft in einem Teilort der Stadt hätten zahlen müssen, nämlich 300 Euro. Für die Rechnungen hätten sie Vorlagen erhalten, die sie wiederum 10 Euro das Blatt gekostet hätten. Und am Ende sei der Auftraggeber ihnen Geld schuldig geblieben mit dem Hinweis darauf, dass sie keine Stundenrapporte abgegeben hätten.
Klingt das nach unabhängigen Unternehmern, die ihr eigener Chef sind oder sogar Mitarbeiter beschäftigen? Für den Zoll nicht. Sondern eher nach vermeintlich Selbstständigen, die tatsächlich aber weisungsgebunden an den Auftraggeber als Arbeitgeber gebunden gewesen sind.
Der Zoll recherchiert zwei Ordner voller Rechnungen und Stundenzettel und legt das der Deutschen Rentenversicherung vor. Die rechnet nach und kommt auf 46.093,28 Euro nicht abgeführte Sozialleistungen. Geld, das der Kranken-, der Pflege-, der Renten- und der Arbeitslosenversicherung entgangen ist. Die AOK und die Berufsgenossenschaft wollen das Geld nun von Auftrag-/Arbeitgeber, haben beide auch bereits Titel erwirkt.
Es sind dies einmal inzwischen 70.000 Euro aufgelaufene Euro für die Krankenversicherung und 8000 Euro für die Berufsgenossenschaft. Beide offenbar vollstreckbar. Schulden haben die Eigenschaft, sich zu vermehren, wenn man nichts gegen sie unternimmt. Ein Wunder, dass der Mann da noch sein Haus hat halten können, für dessen Kredit weitere 20.000 Euro offen sind, wie er vor Gericht erklärte.
Die Schulden, das Verfahren, das alles erdrückt den 60-Jährigen, der im Kreis Rottweil wohnt, beinahe. Der Zoll hatte damals Unterlagen bis zurück ins Jahr 2010 gesichert. Das war vor zehn Jahren. Der Prozess gegen den nun 60-Jährigen ist 2017 aufgenommen worden und war zwischenzeitlich wegen Verhandlungsunfähigkeit ausgesetzt. „Mein Mandant hat größte Schwierigkeiten, sich mit der Sache zu befassen“, so sein Verteidiger. Der Rechtsanwalt ist der nachdenkliche, väterliche Typ. Er ist Pflichtverteidiger, scheut aber nicht davor zurück, seinen Mandanten ins Gebet zu nehmen. Dass die Bescheide der AOK und der Berufsgenossenschaft schon rechtswirksam geworden sind und er davon bis zum Prozess keine Kenntnis davon hatte, das machte den Verteidiger fuchsig. „Das kann tödlich sein“, prophezeite er im Hinblick auf den Ausgang des laufenden Verfahrens.
Der Rechtsanwalt, der ab der kommenden Woche auch den mutmaßlichen Jobcenter-Messerstecher verteidigen wird, es ist der Rottweiler Haudegen Wolfgang Burkhardt, hängt sich im Prozess gegen den 60-Jährigen rein. Streut etwas Sand ins vermeintlich gut geölte Ermittlungsgetriebe.
So habe der Zoll damals die drei polnischen Arbeiter offenbar gleich gemeinsam vernommen. Nicht unabhängig voneinander. „So kann man keine Widersprüche herausarbeiten“, brummelte Burkhardt. Tatsächlich bestätigte vor allem einer der drei einfach, was sein Vorredner gesagt hatte. „Der Zoll hätte richtig zulangen können und sich die anwesenden Arbeiter greifen“, so Burkhardt. Die Behörde habe das leider unterlassen. Die Amtsrichterin pflichtete dem Anwalt bei.
Auch werde man der drei vermutlich nicht habhaft. Das stimmt: Ein Dolmetscher war vom Gericht organisiert worden und wartete auf seinen Einsatz, die drei Polen aber, die ihrem vermeintlichen Chef 2015 vorgeworfen hatte, er betrüge sie, und die damit vieles ins Rollen gebracht hatten, die blieben dem Prozess fern. Es soll sich bei ihnen um einen heute Obdachlosen, um einen des versuchten Muttermords beschuldigten Gefängnisinsassen und dessen drogenabhängigen Sohn handeln. Immerhin den Gefangenen, den könne man vielleicht vorladen. Oder per Amtshilfe in Polen vernehmen, ihn werde man wohl ausfindig machen können, so Burkhardt.
Die Arbeiter, das zeigte die Beweisaufnahme vor dem Amtsgericht Rottweil, waren über Anzeigen in einer polnischen Zeitung angeworben worden. Es habe dann geheißen, sie sollten in Polen ein Gewerbe anmelden, um schließlich in Deutschland selbstständig tätig zu werden. Ihr Gewerbe meldeten sie zudem auch bei der Stadt in Süddeutschland an.
Der 60-Jährige soll die Arbeiter angeheuert haben mit dem Versprechen, pro Baustelle – es ging um Fassadenab- und neubau – 40.000 Euro zu bezahlen. Das Konstrukt: Eine Malerwerkstätte und ein Baubetrieb beauftragen die Ein-Mann-Firma des 60-Jährigen, und dieser wiederum die polnischen vermeintlichen Ein-Mann-Betriebe. Der ehemalige Chef des Malerbetriebs ist heute, mit knapp 60 Jahren, Privatier mit Wohnsitz direkt am Bodensee. Der Chef des Baubetriebs ist noch tätig und hat sich am Dienstag bereits mit dem 60-Jährigen getroffen. Vor Gericht, in einem Zivilverfahren. Es geht um ein Darlehen, das er vergeben und nicht zurückbekommen haben will. Der Frieden zwischen beiden sei dahin, so Rechtsanwalt Burkhardt.
Der Chef des Malerbetriebs, selbst ein Sub-Unternehmer, der den Auftrag auf den Baustellen wiederum von einem Dritten erhalten hat – es ging um acht Gebäude -, will nichts von den mutmaßlichen Methoden des 60-Jährigen gewusst haben. „Er hatte Mitarbeiter, wie er diese beschäftigt hat, davon habe ich keine Kenntnis“, sagte er. Die vorgelegten Rechnungen des heute 60-jährigen Sub-Unternehmers, die hat er angewiesen. Aber nicht direkt, sondern wiederum über seinen Co, den Chef des Baubetriebs. Irgendwie möglichst intransparent, das Ganze.
Der 60-Jährige wirkt in seiner dunklen Strickjacke während des gesamten, rund vierstündigen Prozesses völlig ergeben. Nett: Der Zollbeamte schenkt ihm nach seiner Zeugenaussage ein kumpelhaftes „Tschau“ und ein Lächeln zum Abschied, der Privatier und ehemalige Chef des Malerbetriebs verabschiedet sich von dem angeklagten ebenfalls freundlich.
An einer Stelle kommt Leben in den sonst zusammengesunken dasitzenden Mann. Es ist die, an der hilfsweise die Zeugenaussagen der drei nicht erschienenen Polen beim Zoll verlesen wird. In denen es heißt, dass ausgemacht gewesen sei, die bekämen 40.000 Euro pro Baustelle und sollten sich um ihre Mitarbeiter kümmern. „Genau so war’s“, drückt die Gestik des 60-Jährigen aus. Warum er dann aber Stundenzettel wollte und lauter gleichartige Rechnungen bekommen hat, auf denen nur die Arbeitsdauer vermerkt worden ist – das erklärte er nicht. Er machte zur Sache keine Angaben.
In der Nacht hat er noch eine sehr lange Mail an seinen Verteidiger verfasst. „Ich habe die um 2 Uhr erhalten“, so Rechtsanwalt Burkhardt. Er sei aber noch nicht dazu gekommen, sie zu lesen.
Rechtsanwalt Burkhardt hat zudem darauf hingewiesen, dass die von den Arbeitern damals vorgelegten Rechnungen, die nun auch im Verfahren als Beweismittel verwendet werden, an unterschiedliche Empfänger ausgestellt worden seien. Nicht nur an seinen Mandanten.
Auch sehe er eine gewisse Belastungstendenz dieser drei damaligen Anzeigeerstatter, der Bauarbeiter aus Polen. Ob sie von eigenen rechtlichen Versäumnissen nur ablenken und alle Schuld auf den heute 60-Jährigen haben abwälzen wollen?
Am 12. August geht es in der Sache vor dem Rottweiler Amtsgericht weiter.