Er ist der wohl beste Kenner der Rottweiler Geschichte, Autor vieler maßgeblicher Publikationen zur Stadthistorie – und daneben nicht nur ein aufmerksamer Beobachter, sondern als langjähriger Stadt- und Kreisrat auch ein engagierter Mitgestalter der Zeitläufte: der frühere Stadtarchivar (1968-2006) und Leiter der Rottweiler Museen, Dr. Winfried Hecht. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie er die NRWZ in die Rottweiler Presse- und Stadtgeschichte einordnet und wie er ihre Entwicklung sieht.
NRWZ: Herr Dr. Hecht, auf die Rottweiler Pressegeschichte haben Sie nicht nur einen Blick als Historiker, Sie sind auch Zeitzeuge und Mitwirkender: Als im Januar 2004 publik wurde, dass die Lokalausgabe der Schwäbischen Zeitung, der traditionsreiche „Schwarzwälder Volksfreund” eingestellt wird, waren Sie in im Kreis jener, die sich kurz darauf in der „Villa Duttenhofer” trafen, um über Reaktionen zu diskutieren. Warum haben Sie sich damals in dieser Sache eingebracht?
Winfried Hecht: Der erste Grund war schlicht und einfach Traditionsbewusstsein: Wir hatten in Rottweil immer zwei Zeitungen und das hat sich bewährt. Das hat zum städtischen Rang und zur Qualität von Rottweil beigetragen. Der zweite Grund war, dass ich der Auffassung bin, dass an einem Standort zwei Zeitungen deutlich besser sind als eine alleine. Es geht um Pluralität, um mehrere Perspektiven – Dinge, die auch mit Demokratie zu tun haben. Max Planck hat gesagt: „Ein Phänomen ist die Summe seiner Aspekte”. Wenn ich nur einen Aspekt, eine Sichtweise habe, kann ich sicher sein, dass ich das Phänomen nicht vollständig beleuchte. Ein kleiner Punkt kam noch hinzu: Meine Großmutter war lange vor meiner Zeit schon Aktionärin der „Schwäbischen Zeitung”, dem „Schwarzwälder Volksfreund” – da schmerzte es doppelt, dass diese Zeitung eingestellt wurde.
Welche Rolle hat es gespielt, dass Informationen über die Schließung, die ja eine Gebietsbereinigung zweier Zeitungsverlage war, kaum nach außen drangen, dass man also Nachrichtenunterdrückung betrieben hat?
Ich fand es nicht gut, dass da auf höchster Ebene die Sprachregelung so festgelegt wurde, dass sozusagen der brave Untertan, der brave Leser auf jeder Seite etwas vorgesetzt bekam und es einfach schlucken sollte.
Das hat viele Leute aufgebracht. Immerhin kamen zweieinhalbtausend Unterschriften gegen die Schließung zusammen und es gab eine Demonstration …
… Ja, die Leute haben gemerkt, dass da urbane Qualität verloren geht. Es ist doch wertvoll, wenn man Meinungsvielfalt hat. Da sieht man, bildlich gesprochen: Wir schauen nicht nur zur Dachluke raus, sondern unser Haus Rottweil hat mehrere Fenster.
Ein paar Monate gab es dann de facto das Monopol nur einer Zeitung. Wie haben Sie das wahrgenommen – was hat das für die Stadtgesellschaft bedeutet?
Sie ist ärmer geworden. Vorher konnte man städtische Problematiken von mehreren Seiten in den Blick nehmen – das hat nur gutgetan. Mit dem Wegfall dieser Möglichkeit hat Rottweil etwas verloren. Das hat man gespürt und das hat geistig wehgetan.
Im März 2004 wurde der Verein „Neue Rottweiler Zeitung” gegründet und im November 2004 ist die „NRWZ zum Wochenende” in die Lücke gestoßen und hat eine Gegenöffentlichkeit ermöglicht. Wie bewerten Sie als Historiker diese Entwicklung?
Die bewerte ich sehr hoch, weil man sich in einem großen Teil der Öffentlichkeit nicht einfach abgefunden hat mit einer Entwicklung, sondern gesagt hat: Eine zweite Zeitung wäre gut und wir müssen selbst etwas dafür tun, damit die Pluralität in der Berichterstattung und der Meinungsdarstellung wieder größer wird. Bis zu einem gewissen Grad ist das ja auch geglückt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Rottweil ja von Parallelfällen.
An vielen Orten ist einfach etwas weggefallen, ohne dass es den Versuch gab, die Vielfalt wieder stärker zu machen. Ist das auch Ausdruck eines gewissen Rottweiler Eigensinns?
Ich würde es aus der Rottweiler Tradition herleiten: Die Stadt hat einen hohen Intellektualisierungsgrad. Von daher glaube ich, dass Lesen, Überlegen, Formulieren und Vergleichen traditionell in der Mentalität des Durchschnittsrottweilers einen höheren Stellenwert hat und vielleicht etwas wichtiger ist als andernorts.
Zeitungen stehen in engem Zusammenhang mit einer aufgeklärten Öffentlichkeit – wo liegen denn die Anfänge der Rottweiler Pressegeschichte?
Da kann man weit zurückgehen, bis zu den Ein-Blatt-Drucken des 16. und 17. Jahrhunderts. Als zum Beispiel 1643 die Kämpfe um das belagerte Rottweil in Gang waren, hat, soweit wir wissen, ein Abt aus Villingen die Vorgänge schriftlich festgehalten und nach Augsburg übermittelt, wo dann Ein-Blatt-Drucke hergestellt und vertrieben wurden. Daraufhin beschwert sich die Stadt Rottweil bei der Stadt Augsburg, das alles gehe sie gar nichts an (lacht).
Als nächste Station würde ich das Jahr 1749 nennen. Damals wurde, getragen vom Geist der Aufklärung, das „Reichstadt Rottweilische Wochenblatt” ins Leben gerufen. Hintergrund waren Leute wie Bürgermeister Hofer, die es von ihrer Ausbildung in Universitätsstädten gewohnt waren, dass es Zeitungen gibt, die berichten und an der Meinungsbildung mitwirken.
Das Wochenblatt war nach 1803 nicht mehr reichstädtisch, sondern nannte sich „herzoglich”, was wiederum auf Vorbehalte stieß, weil man sich aus Stuttgart nichts sagen lassen wollte. Das Blatt wurde auch immer wieder zensiert und erschien mit weißen Stellen.
In der Revolutionszeit 1848/49 gab es Versuche, ein alternatives Organ in Rottweil zu etablieren, das ist aber aus politischen Gründen fehlgeschlagen. Wer zu deutlich gesagt hat, was er denkt, landete schnell im Gefängnis auf dem Hohenasperg. Die Lage verbesserte sich 1862/63 durch die Einführung der Pressefreiheit in Württemberg. Damals etablierte die Familie Rothschild die „Rottweiler Bürger-Zeitung”, die dann ihren Radius als „Schwarzwälder Bürger-Zeitung” über die Stadt hinaus erweiterte.
Durch das Aufkommen des politischen Katholizismus mit der Zentrumspartei wollte man auch eine Zeitung, die diese Weltsicht vertrat, daher wurde 1878 der „Rottweiler Volksfreund” gegründet, der später seine Reichweite als „Schwarzwälder Volksfreund” ebenfalls erhöhte.
Gefehlt haben im Spektrum aus meiner Sicht sozialdemokratische Stimmen. Davon hätte Rottweil profitiert. Man hätte mitbekommen: Man kann die Welt auch noch aus anderen Perspektiven anschauen.
Diese Grundstrukturen waren bis zu Beginn des Dritten Reiches stabil. Was geschah dann?
Dann hat von Schramberg und Trossingen her die NS-Presse alles getan, um die etablierten Rottweiler Zeitungen zu zerstören. Erst musste die „Bürger-Zeitung” aufgeben – die jüdische Familie Rothschild konnte gerade noch in die USA auswandern. Und auch der „Volksfreund” musste sich 1935 in das NS-Schema einordnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde schnell deutlich, dass es zur wiedergewonnenen Demokratie gehört, dass man zwei Zeitungen hat: Der „Schwarzwälder Volksfreund”, später unter dem Dach der „Schwäbischen Zeitung” erscheinend, erlebte eine Wiedergeburt und der „Schwarzwälder Bote” übernahm die Lizenz der Rothschild-Zeitung. Allerdings war es schon ein Verlust, dass die Zeitungen ihre zentralen Redaktionen nicht mehr in Rottweil hatten, sondern der „Schwarzwälder Bote” in Oberndorf und die „Schwäbische Zeitung” in Leutkirch.
Welche Bedeutung haben für Sie als Historiker Zeitungen?
Ich persönlich bin passionierter Zeitungsleser. Die Tageszeitung lese ich morgens schon ganz früh und die Lektüre der NRWZ ist fester Teil eines freitäglichen Rituals*. Für die historische Recherche haben Zeitungen eine wichtige Funktion. Zeitungen halten als Chronisten im Wesentlichen fest, was sich ereignet. Ein Historiker kann es gar nicht leisten, das alles detailliert herauszufinden.
Der Journalist hat den Vorteil, dass er nahe dran ist. Er kann Stimmungen darstellen, Hintergründe beleuchten. Der Historiker wiederum hat die Möglichkeit, auf die Presse zuzugehen und mit ihr im Dialog zu bleiben. Ich mache das zum Beispiel mit Leserbriefen und jetzt schon 46 Jahre lang als Herausgeber der „Rottweiler Heimatblätter”.
Wenn man Zeitungen als Quelle heranzieht, setzt das viel Vertrauen in diejenigen voraus, die Zeitung machen. Abgesehen von offener Verfälschung und Propaganda wie im Dritten Reich: Manchmal liegt auch der Trugschluss nahe, dass sich nur das ereignet hat, was in der Zeitung steht – und dass man dann vieles als Entwicklung nicht erkennt …
… Der Historiker hat es da natürlich leichter. Er kann Dinge mit größerer Distanz einordnen. Ich kann mit einigen Jahren Abstand gut sagen: Was der Gemeinderat da beschlossen hat, war nicht sehr weitsichtig. Der Journalist hat es da schwerer: Er sieht noch nicht die kritischen Punkte, hat aber die Chance, ganz nah dran zu sein und Vorgänge genau zu beobachten, zu analysieren und festzuhalten.
Wo sehen Sie Stärken und Schwächen der NRWZ?
Den kulturellen Teil, unabhängig davon, ob es um Heimatgeschichte, Musik oder anderes geht, halte ich für sehr beachtlich. Als nicht so stark empfinde ich die Berichterstattung zu den Themen Testturm und Hängebrücke. Da würde ich mir mehr Abstand vom Rathaus und mehr kritische Aufklärung wünschen, etwa in der Frage, was das denn die Rottweiler Öffentlichkeit insgesamt kostet.
Wenn dereinst eine Fortsetzung der Rottweiler Stadtgeschichte geschrieben wird, welchen Platz würden Sie da der NRWZ zuweisen?
Einen ganz wichtigen! Den Medien insgesamt und der NRWZ auch deshalb, weil sie aus der Erkenntnis heraus entstanden ist, dass es Pluralität bedeutet, wenn ich eine weitere formulierte Meinung auf den Tisch bekomme. Und weil die Initiative von einem Verein mitgetragen wird, der nicht nur meckert und jammert, sondern mit Uli Hertkorn an der Spitze** sagt: Wir müssen schauen, dass man selber Pluralität gestaltet. Es gehört nicht nur zur historischen, sondern auch zur heutigen Rottweiler Identität, dass es mehrere Zeitungen gibt.
Also ist die NRWZ Teil der Rottweiler Identität?
Als Historiker und als Zeitungsleser würde ich klar sagen ja.
Die Fragen stellte unser Redakteur Andreas Linsenmann.
Hinweis: Dieser Text erschien zunächst 2019 in der gedruckten Sonderausgabe „15 Jahre NRWZ!“
* Die gedruckte NRWZ zum Wochenende, auf die Dr. Winfried Hecht hier verweist, erschien bis zum Corona-März 2020.
** Mittlerweile wird der Verein Neue Rottweiler Zeitung von Dr. Andreas Linsenmann geführt.